So sinnlich wie Lutz Seilers Hiddensee-Roman „Kruso“ ist auch die gleichnamige Verfilmung geraten. In der späten DDR gibt es hier eine Insel, auf der sich Aussteiger und potenzielle Flüchtlinge sammeln.

Hiddensee - Klein war dieses Land und entsprechend beschränkt seine kleinen Fluchten. In den DDR-Fernsehreihen „Polizeiruf 110“ und „Der Staatsanwalt hat das Wort“ stießen flüchtige Verbrecher darum allzu rasch an die hermetischen Grenzen des „Ländchens“ und wurden von der grau gewandeten Staatsmacht gestoppt.

 

Als der überstürzt aus Halle abgereiste Germanistikstudent Edgar Bendler im Juni 1989 mit einem Dampfer auf die Ostseeinsel Hiddensee übersetzt, wird den Passagieren per Megafon eingeschärft, sie befänden sich im Grenzgebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Diese Eingangsszene haben der Regisseur Thomas Stuber und sein Drehbuchautor Thomas Kirchner ihrer Verfilmung von Lutz Seilers Roman „Kruso“ frei hinzugefügt, denn sie setzt die entscheidende Zeit- und Ortsmarke.

Mann aus dem Gebüsch

An der imposanten Steilküste am Westufer von Hiddensee patrouilliert die Grenzpolizei. Bei gutem Wetter ist von dort aus die nur fünfzig Kilometer entfernte dänische Insel Møn zu sehen. Eine Statistik, die Lutz Seiler im Epilog zitiert, verzeichnet mehr als 5600 Ostsee-Fluchten, davon nur 913 erfolgreiche, und 174 angeschwemmte Todesopfer seit 1961.

All das kann Ed nur erahnen, der abends nicht zurückfährt, sondern sich am Strand versteckt – ohne Passierschein oder Nachweis eines Quartiers. Will er Richtung Dänemark schwimmen oder als „Esska“ – Saisonkraft – den Sommer auf der Insel verbringen? Das bleibt in der Schwebe. Kurz bevor ihn die Grenzer mit ihren Taschenlampen entdecken, drückt ein Mann Ed mit aller Kraft ins Gebüsch: Es ist Kruso, der wie in Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ auf seinen Freitag gewartet, ja von ihm geträumt hat, wie er dem Neuankömmling später offenbaren wird.

Verschworene Gemeinschaft

Der aus Ulm stammende Jonathan Berlin als schüchtern-verschreckter Edgar, den ein Erlebnis gewaltig zu belasten scheint, und Albrecht Schuch als bärtiger Inselguru Alexander Krusowitsch genannt Kruso: Diese beiden sind als inniges Freundespaar ideal besetzt. Kruso, Sohn eines sowjetischen Generals, der ihn und seine Schwester Sonja nach dem Tod der Mutter auf der Insel zurückließ, verkörpert eine natürliche Würde. Schuch, der bereits in der Trilogie „NSU: Mitten in Deutschland“ als Rechtsterrorist Uwe M. glänzte, lässt die Figur des rätselhaften Kruso von innen heraus strahlen.

Ein utopischer Funke glüht ebenso in den Augen des Kellners Rimbaud (Peter Schneider), der einst Philosophie in Leipzig studiert hat. Auch er arbeitet im staatlichen Betriebsferienheim „Der Klausner“ unweit des Hiddenseer Leuchtturms. Gedreht wurde in Litauen und am Originalschauplatz, denn die weitläufige Gaststätte ist nach wie vor in Betrieb. Nach einem Tag Zwiebelschneiden auf Probe wird Edgar überglücklich als „Esska“ in die verschworene, dabei keineswegs konfliktfreie Klausner-Gemeinschaft aufgenommen.

Drecklurch und Erotisches

„Ein unablässiges Raunen umspülte das Eiland“, heißt es bei Lutz Seiler, der Poesie und den zeitgeschichtlich bedeutsamen Sommer 1989 zu einer Art ostdeutschem „Zauberberg“ amalgamiert, einem atmosphärisch außergewöhnlichen Initiationsroman. „Schiffbrüchige“ werden die Aussteiger und potenziellen Flüchtlinge genannt, die Kruso und seine Jünger allabendlich heimlich bewirten und mit Schlafplätzen versorgen – erotische Aventüren miteingeschlossen.

Auch zwischen den Trakl-Verehrern Kruso und Edgar knistert es vernehmlich, besonders wenn sie mit schweißglänzenden Oberkörpern ihre unentfremdete Arbeit in dem dampfenden Abwaschraum verrichten. Selten ist ein banaler Haushaltsvorgang derart poetisch beschrieben worden, einschließlich des „Dreck-Lurchs“, den Kruso aus dem Abflussrohr zieht und im Garten vergräbt. An solchen Stellen muss die filmische Adaption zwangsläufig die literarische Vorlage abschmirgeln. Dennoch vermittelt sich Lutz Seilers sinnliche Erzählweise auch im Film.

In den Wirren des Novembers

Leider bleibt das Küchenradio Viola hier namenlos, das mit seinem leuchtend grünen Zyklopenauge hoch oben im Küchenregal thront. Unablässig spült es Deutschlandfunk-Nachrichten von den Flüchtlingsströmen aus der DDR, also der Wirklichkeit, in die Isolation des Klausners. Bis eines Tages Kruso ein Butzenglas in den Apparat schleudert und „Viola“ zum Schweigen bringt. Die allgemeine Absetzbewegung, die auch die Belegschaft der Gaststätte dezimiert, kann dieser Wurf jedoch nicht aufhalten. Am Ende bleiben Edgar und sein Beschützer Kruso allein im Klausner zurück – bis in den Wirren des Novembers 1989 ein Unglück geschieht. „Das Meer hatte wieder begonnen zu atmen, mit seinem dunklen Grund und den leisen Obertönen“, heißt es im Roman.

Ausstrahlung: ARD, Mittwoch, 26.September 2018, 20.15 Uhr