Der zauberhafte Episodenfilm „Notes of Berlin“ erzählt herzerwärmende, tragische, komische und skurrile Geschichten. Als Inspiration dienen echte Zettelbotschaften aus den Straßen der Stadt.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Zartblau verheißend leuchtet der Morgenhimmel hinter nachtschwarzen Wolken. Polizeisirenen zerschneiden das Rauschen der Stadt, drei junge Nachtschwärmer verabschieden sich am Rosenthaler Platz. Berlin erwacht, und das Leben geht seinen Gang: Kater Paul wird vermisst, jemand warnt vor einem Fahrraddieb, der umgeht, einer hat eine Zahnprothese gefunden und sucht den Besitzer – Nachrichten, die per Zettelbotschaft in die Stadt hinausposaunt werden und Gehör erbitten.

 

Unter den meist handgeschriebenen Flyern und Aushängen, mit denen Berlin von oben bis unten zugekleistert und zugeklebt ist, findet sich diese Notiz: „Für eine Minute nur: Bleib stehen, schau in den Himmel und mache dir klar, wie erstaunlich das Leben ist“, fordert da jemand seine Mitmenschen auf. Eine philosophische Handlungsanweisung, der einer der drei nicht mehr sehr nüchternen Clubgänger in Mitte folgt, nachdem er sich am Laternenpfahl erleichtert hat – mit für ihn tragischen Folgen.

Ein Blog als Fundus

Diesen lakonischen Prolog und die Erkenntnis „Das Herz der Stadt schlägt auf der Straße“ schickt die Autorin und Regisseurin Mariejosephin Schneider ihrem zauberhaften Film „Notes of Berlin“ voraus, der am sehr späten Sonntagabend im Ersten in der Reihe „ARD Debüt“ zu sehen ist. In 15 Episoden spürt die junge Filmemacherin dem Herzschlag der Hauptstadt nach und erzählt skurrile, herzerwärmende, tragische, komische Geschichten. Inspiriert sind ihre Film-Shorties von authentischen Zettelbotschaften, die in den Straßen Berlins zu finden sind – und von denen Joab Nist so fasziniert war, dass er den Blog „Notes of Berlin“ ins Leben rief und seither die schönsten Fundstücke dort veröffentlicht.

Berlin und seine Hundebesitzer

Schneider bedient sich aus diesem Fundus und vollbringt eine Hommage an ein Alltagsphänomen, das bislang unterm Radar lief. Die Zettel sind viel mehr als ein primitives analoges Kommunikationsmedium: Sie spiegeln die soziale Realität der Stadt und ihrer Bewohner, machen deren Wünsche, Bedürfnisse und Nöte publik, ihre Angebote und Ärgernisse, ihre Hoffnungen und ihr Glück. Mehr noch: Sie bringen den Ton, die Mentalität, die Seele der Stadt auf den Punkt.

Wer von Berlin erzählt, muss von Berlinern und ihren Hunden erzählen, zum Beispiel von Baader und seinem Herrchen. Der Hund heiße so, weil er „ so ’n kleener Freigeist“ sei. Vor allem: „Alles ist politisch, alles ist ein Statement“, sagt der altlinke Dieter an der Tramhaltestelle zu dem Banknachbarn und dessen Vierbeiner – sogar der Hundehaufen. Und Dieter hat seine ganz eigene Methode entwickelt, dies seinen Mit-Stadtbewohnern kundzutun und als Street-Art zu definieren – in Berlin ist jeder Künstler, weiß man ja. Dass Baader seine Unabhängigkeit mehr liebt, als Dieter recht sein kann, davon erzählt diese treffend beobachtete, mit einem hübschen Schuss Ironie versetzte Szene.

Einsamkeit gehört auch zur großen Stadt

Herren- oder frauenlos scheint auch der Hase (oder ist es ein Kaninchen?), der einem Computerspielzocker an der Tür seiner armseligen Bude in die Hand gedrückt wird und den traurigen Nerd dazu zwingt, seine Nachbarn im Haus kennenzulernen. Einsamkeit gehört zur großen Stadt genauso wie die Suche nach einem Dach über dem Kopf. Doch wer das WG-Zimmer mit Erker, Stuck und Parkett haben will, muss ein knallhartes Ausleseverfahren bestehen und den Urban-Kreativ-Hipster mit internationalem Background in Reinform verkörpern, von dem sich die Mitbewohner Vorteile beim „Netzwerken“ versprechen. Als Studentin Rosa, Nr. 77 unter den Bewerbern, klar wird, dass sie als Ur-Berlinerin null Chancen hat, greift sie zu einer rabiaten, sehr Berlin-typischen Methode.

Liebeserklärung an die Hauptstadt

Schneiders Miniaturen sind organisch miteinander verwoben, wie eben auch im Leben alles zusammenhängt; zwischen die Episoden spielt sie anrührende bis verblüffende Zettel-Exemplare ein. Andrea Sawatzki sehen wir als verzweifelte Mutter: Von einem schweren Schicksalsschlag getroffen, irrt sie durch die Stadt, bis der Strudel des Lebens mit seinem Kreislauf des Werdens und Vergehens sie zumindest für einen Moment aus ihrem Kummer herausreißt. Erfreulich, dass die Schauspielerin diese Nachwuchsarbeit unterstützt – bedauerlich, dass die ARD solche Qualitätsware, wie sie vielfach in der Debütreihe zu finden ist, auf derart unattraktiven Sendeplätzen versendet. Zu den bekannteren Darstellern zählen etwa Gernot Kunert, Axel Werner, Katja Sallay und Mex Schlüpfer.

Nüchtern und poetisch

Der Episodenfilm tut, was gute Episodenfilme tun: Er zeigt ein ganzes, größeres Bild in der Aneinanderreihung von Einzelheiten. Schneider gelingen Preziosen, die still und beredt, nüchtern und poetisch sind. Die Erkenntnis, die eine jede Kurzgeschichte im Zuschauer keimen lässt, mutet an wie ein Abfallprodukt, das die Stadt-Maschine en passant ausscheidet. Und so ist „Notes of Berlin“ eine Liebeserklärung an die Hauptstadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Denn wer, wenn nicht ein Berliner Taxifahrer kann einem Fahrgast schon den Funkturm als Eiffelturm verkaufen? Und wo sonst gehen werdende Väter verloren und werden wiedergefunden – mithilfe eines Aushangs?

Notes of Berlin: So, 5. März, 00.05 Uhr, ARD

Die Reihe „ARD Debüt

Reihe
Die Reihe „ARD Debüt“ zeigt zwölf Filme von jungen Regisseurinnen und Regisseuren – in diesem Jahr seien die Debüts „bunt, vielfältig, divers“, so Meike Götz vom MDR. „Notes of Berlin“ ist der dritte Beitrag der Reihe, die sich übers Jahr hinweg mit einem Film pro Monat fortsetzt. Die Filme sind kurz vor ihrer linearen Ausstrahlung wie auch bis zu drei Monate danach in der ARD-Mediathek abrufbar.

Blog
Der Berlin-Blog von Joab Nist heißt www.notesofberlin.com; aus der Zettelsammelei ist inzwischen eine Mitmachbewegung geworden, mehr als 55 000 Fundstücke sind zusammengekommen.