In ihrem klugen Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“ verknüpft Regina Schilling ihre Familienerinnerungen, die großen TV-Shows und die schlimme deutsche Vergangenheit. So harmlos war die nette Unterhaltung damals gar nicht.

Stuttgart - Mein Vater war Drogist“, erzählt die 1962 geborene Filmemacherin Regina Schilling, und macht klar, was das im Wirtschaftswunder-Deutschland der 60er Jahre hieß: keinen richtigen Feierabend, weil die Kunden auch abends und sonntags an der direkt neben dem Laden gelegenen Wohnungstür klingelten, um Kondome, Handcreme oder Lippenstift zu bekommen. Keinen Urlaub, weil man das Geschäft ja nicht alleine lassen konnte. Häufigen Streit zwischen den Eltern, weil auch die Mutter in der Drogerie arbeitete und aller Stress von dort mit ins abendliche Wohnzimmer hinüberwanderte.

 

Nur am Wochenende wurde es kurz mal harmonisch: Dann saßen die Eltern, die beiden Töchter und später noch der nachgeborene „Stammhalter“ vor dem Fernsehapparat und genossen die große Samstagabendshow. Vater machte ein Bier auf, die Mutter gönnte sich ein Glas Wein, und zumindest Tochter Regina nahm Showmaster wie Hans-Joachim Kulenkampff und Peter Alexander als bessere Familienerweiterung wahr: immer gut gelaunt und sorgenfrei.

Eine große Familie

In ihrem sehenswerten Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“ schildert Regina Schilling das auf Anpassung, Pflichterfüllung und Strebsamkeit ausgerichtete Leben einer anderen Epoche: Sonntags ging die Familie gemeinsam spazieren, die Mädchen traten nur adrett angezogen vor die Haustür, die Väter sprachen nicht über ihre Sorgen. Schon als Museum dieser Epoche der Glücksfassaden und Stressschäden wäre dies ein wunderbarer Film, der den Älteren Erinnerungen zurückbringt und den Jüngeren einen prima Eindruck von der gar nicht so guten alten Zeit vermittelt.

Aber Schilling nimmt ihr kindliches Empfinden, die Showmaster gehörten zur Familie, auf kluge Weise ernst. Ihr aus ein paar Zeitdokumenten, aus staunenswert vielen Schmalfilmaufnahmen der väterlichen Kamera und aus Ausschnitten der TV-Shows montierter Film erzählt nicht nur die Biografie von Vater und Mutter, sondern die von Kulenkampff, Hans Rosenthal und auch mal Caterina Valente gleich mit. Die Lebenslinien dieser Menschen verlängert sie in jene Vergangenheit hinein, über die im Nachkriegsdeutschland nicht so gern und jedenfalls nicht selbstkritisch gesprochen wurde.

Was nicht erzählt wurde

So öffnet sie einem die Augen für Dinge, die man damals nicht gesehen oder längst vergessen hat: wie oft etwa Kulenkampff mokante Anspielungen auf seine Kriegs- und Soldatenzeit machte. Schilling legt offen, dass die Show-Welt eben nicht geschichtslos war, sondern von Geschichte durchtränkt. Der stets am Ende der Kulenkampff-Show „Einer wird gewinnen“ als blasierter Butler auftretende Martin Jente etwa verbarg vor dem Publikum nicht nur, dass er der Produzent der Show war. Er hielt vor der Welt geheim, dass er einst SS-Hauptscharführer gewesen war und zuhause seine Nazidevotionalien hortete.

Der jüdische Deutsche Hans Rosenthal dagegen war als Halbwüchsiger einem Transport in die Vernichtungslager entgangen und hatte im Untergrund den Krieg überlebt. Für ihn war das Showgeschäft Teil der Umerziehung der Deutschen.

Das gemeinsame Trauma

Durch passgenaue Montagen von Privat- und TV-Material überzeugt uns Schilling von der These, Entertainer und Publikum hätten in Komplizenschaft die gemeinsame traumatische Vergangenheit im Zaum gehalten. Die wachsende Überforderung eines Drogisten, der jung den Herztod stirbt, steht so nicht als bloße Konsequenz des Geschäftslebens vor uns, sondern auch als späte Reaktion auf einst Erlebtes. Ein Schlüsselsatz in „Kulenkampffs Schuhe“ ist Adolf Hitlers Drohung, von einer nationalsozialistischen Erziehung werde man das ganze Leben lang nicht wieder frei.

Im steten Schmunzeln Kulenkampffs erkennt man plötzlich permanentes Amüsement darüber, dass er, der sich auf dem Russlandfeldzug selbst mit dem Messer mehrere erfrorene Zehen abschneiden musste, nun im Scheinwerferlicht das Leben genießt, während die Leiche des Führers schon vor langer Zeit in den Trümmern Berlins verbrannte.

Ausstrahlung: ARD, Mittwoch, 8. August 2018, 22.30 Uhr. Online First in der ARD-Mediathek, bereits ab 18 Uhr am Ausstrahlungstag, danach 7 Tage online verfügbar.