Erfunden wurde Twitter als Kanal für Kurznachrichten. Mittlerweile hat sich das Medium aber zur Bühne für Selbstdarsteller entwickelt, die sich hinter Namen wie Harald Schmidt und Margot Honecker verstecken.

Stuttgart - Wozu ein Doppelgänger doch gut sein kann! Seit 2008 kommentiert Harald Schmidt auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, immer so gut gelaunt, wie man ihn im Fernsehen schon lange nicht mehr erlebt hat. Jetzt verliert er seinen letzten Sendeplatz beim Bezahlsender Sky und ohnehin ist schon länger bekannt: Schmidt ist gar nicht Schmidt. Hinter dem gleichnamigen Twitter-Account verbirgt sich „Rob Vegas“ alias Robert Michel, 30, Internet-Showmaster aus Bielefeld.

 

Ausgerechnet die „Bild“ ist schuld daran, dass Michel das Verwirrspiel jetzt beendet hat. Sie war auf seinen letzten Tweet hereingefallen und berichtete, Schmidt sende seine Show ab Herbst kostenlos im Netz. Bevor der echte Schmidt das dementieren konnte, meldete sich der falsche zu Wort. Glaubt man Michel, hatte sich der Late-Night-Talker nie über den Fake beschwert. Er spricht von einer Win-Win-Situation. „Dank dem falschen Harald Schmidt gab es immer tolle Schlagzeilen, und ich bekomme lauter Angebote für Jobs.“

Twitter ist im Aufwind. Bislang sind zwar erst 4,4 Millionen Deutsche in dem Netzwerk unterwegs, doch die Zahl wächst. Im Vergleich zum Vorjahr ist sie um 37 Prozent gestiegen. Das Medium, als Kanal für Kurznachrichten mit 140 Zeichen gestartet, wird dabei immer mehr von Menschen genutzt, die eher eine Pointe suchen als die Meldungen der #GroKo. Und in der Natur der Sache liegt es, dass sich viele User hinter Avataren verstecken. Es sind arrivierte Menschen, die dem Spaß am Nonsens incognito auf ihrem Zweitaccount frönen.

Die falsche Margot Honecker

Twitter eignet sich eben nicht nur wunderbar als PR-Instrument, wie die Schauspieler Elyas M‘Barak und Armin Rohde unlängst bei „Wetten, dass . . ?“ demonstrierten, als sie während der Sendung gelangweilt twitterten. Rohde, mit 20 000 Followern einer der Platzhirsche in der Twittersphäre, sagt, die direkte Kommunikation entspreche seinem Temperament: „Es hat was von einem Rollenspiel und ist also für mich nichts Neues.“

So etwas weckt Begehrlichkeiten, auch bei Leuten, die sonst keine Bühne haben. Eine von ihnen ist Margot Honecker. Oder genauer: der Mann, der sich ein Foto der Witwe des ehemaligen DDR-Staats- und Parteichefs als Profilbild geborgt hat. Seine Identität gibt er nicht preis, er könnte der Enkel seines Alter Egos sein. Fragt man ihn via Twitter, warum er sich eine der unbeliebtesten Politikerinnen der DDR ausgesucht hat, sagt er: „Mich interessiert, wieviele Follower jemand bekommen kann, der in Ost und West verhasst ist.“ Die falsche Honecker hat inzwischen sieben mal so viele Follower wie die echte, sie begrüßt ihre Leser mit „Genossen!“ und lobt Putin für seinen Einsatz auf der Krim.

Der Reiz, sich neu zu erfinden: auch das erklärt, warum Twitter nach der ARD-ZDF-Onlinestudie von 2013 von allen sozialen Netzwerken am stärksten zugelegt hat. Während bei Facebook die Rolläden runtergegangen sind, weil immer mehr Nutzer Privates nur noch mit Freunden teilen, ist hier fast alles öffentlich.

Wie Regendelfin männliche Fantasien anregt

Mit Risiken und Nebenwirkungen kennt sich Peter Breuer (48) aus, einer der Pioniere im Paralleluniversum. Als er sich 2009 anmeldete, suchte er ein „Überdruckventil“ für die Ideen, die er als Werbetexter an den Rand seiner Notizbücher kritzelte. Heute spielt er mit über 17 000 Followern in der Twitter-Bundesliga, er ist der Papst für die Poeten des Alltags zwischen Rammstein und Rilke – und ein Meister des abgründigen Humors dazu. Man nehme nur seine Jogginghose. „Die“, so twittert er, „erreicht den optimalen Mix aus Verwahrlosung und Gemütlichkeit, wenn man ihr nicht mehr ansieht, wo hinten und wo vorne ist.“ Würde er sich heute anmelden, würde er nicht mehr unter seinem Klarnamen twittern. Das schränke den Radius ein: „Witze über Eltern oder Auftraggeber sind tabu.“

Marie von den Benken alias Regendelfin muss keine Rücksichten nehmen. Sie ist eine der erfolgreichsten Frauen im Genre. Fotos zeigen eine blonde Mittzwanzigerin, deren Gesicht die ideale Projektionsfläche für männliche Fantasien ist. Penis und Sex mit Til Schweiger, das sind Vokabeln, die sie oft strapaziert, für eine Frau vielleicht zu oft. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Marie von den Benken gäbe es gar nicht und sei das Fantasiegeschöpf eines Hamburger Werbetexters.

Das ist die Krux mit Twitter: „Man kann nie wissen, wer hinter einer Twitter-Identität steckt“, sagt das „Hauptstadtmädchen“, eine working mum aus Berlin. Sie hat das Medium vor einem Jahr nach der Trennung von ihrem Mann entdeckt. Twitter als Tagebuch und Therapeutikum. Verspielt, nachdenklich, ironisch. Das ist ihr Ton, der sie mit Menschen verbindet. Sie sagt, mit einigen sei sie jetzt sogar im richtigen Leben befreundet. Nähe kann also auch in der virtuellen Welt entstehen. Sie jedenfalls sei nur selten enttäuscht worden, sagt das Hauptstadtmädchen: „Meist hat das Bild, das ich mir vorab gemacht habe, ganz gut gepasst.“