Es ist das zweite Mal in diesem Jahr, dass islamistische Taliban eine Provinzhauptstadt in Afghanistan angreifen. Welche Chancen hat nun Präsident Aschraf Ghanis geplante Initiative, den Aufständischen ein neues Waffenstillstandsangebot zu machen?

Kabul - Mehrere hundert radikalislamische Taliban haben in der Nacht zu Freitag die ostafghanische Provinzhauptstadt Gasni von mehreren Seiten angegriffen. Die Aufständischen griffen die Stadt in der Nacht zum Freitag von mehreren Seiten an, wie der Sprecher der Provinzregierung, Arif Nuri, berichtete. Die Extremisten lieferten sich stundenlange Gefechte mit Sicherheitskräften, die bis zum frühen Abend (Ortszeit) andauerten.

 

Mindestens 14 Polizisten und Soldaten sowie zwei Zivilisten wurden bei den Gefechten getötet, etwa 30 weitere Sicherheitskräfte und Zivilisten wurden verletzt. Das Verteidigungsministerium berichtete überdies von mindestens 150 verletzten oder getöteten Extremisten.

Der Sprecher des Ministeriums, Mohammed Radmanisch, sagte am Abend, die Taliban seien aus dem Zentrum vertrieben worden. „Die Situation in der Stadt ist unter Kontrolle.“ Nun bemühten sich die Sicherheitskräfte, die Aufständischen auch aus den Außenbezirken zu vertreiben. Dort schössen die Extremisten weiter sporadisch auf Polizisten und Militärs.

Mehrere Gebäude in Flammen aufgegangen

Lokale Bewohner hatten davor berichtet, Taliban hätten sich in Privathäusern und Geschäften verschanzt und immer wieder geschossen. Mehrere Gebäude seien in Flammen aufgegangen.

Laut Radmanisch trafen Spezialeinheiten ein und die Luftwaffe wurde in Bereitschaft versetzt. Eine US-Drohne führte am Vormittag einen Luftangriff aus.

Bis zum Nachmittag wurden mindestens 16 Menschen getötet, davon 14 Sicherheitskräfte und zwei Zivilisten, wie der Leiter der örtlichen Gesundheitsabteilung, Bos Mohammed Hemat, sagte. Weitere 23 Sicherheitskräfte und sieben Zivilisten wurden demnach verletzt. Allerdings waren Krankenhäuser und Provinzräte ab dem späteren Nachmittag nicht mehr telefonisch zu erreichen, da erst der Strom in der Stadt ausfiel und später der Handyempfang. Auch der Fernseh- und Radioempfang war unterbrochen.

Gasni hat geschätzte 150 000 Einwohner und liegt an der Ringstraße, einer wichtigen Nord-Süd-Verbindung, die die Hauptstadt Kabul mit der südlichen Stadt Kandahar verbindet. Lokalen Medienberichten zufolge wurde der Verkehr auf der Route eingestellt. Wären die Taliban auf Dauer erfolgreich, hätten sie praktisch den Norden vom Süden abgeschnitten.

Bereits vor dem Überfall haben die Taliban die Provinz Gasni militärisch dominiert. Sie verfügen laut dem Analyseinstitut Afghanistan Analysts Network über eine starke Präsenz in fast allen der 18 Bezirkszentren.

Hohe Dominanz der Aufständischen

Laut Militärangaben kontrollieren die Taliban aktuell knapp 14 Prozent des Landes. Weitere 30 Prozent sind umkämpft. Allerdings sehen andere Quellen eine höhere Dominanz der Aufständischen.

Mehrere Behördenvertreter aus Gasni hatten sich über die schlechte Sicherheitslage beklagt, Experten befürchteten einen Angriff. Lokale Kommentatoren warfen auch die Frage auf, ob es den Taliban durch den historischen Waffenstillstand im Juni leichter gefallen sei, sich in Gasni zu sammeln. Der Waffenstillstand war von den Taliban und der Regierung für drei Tage eingehalten worden. Allerdings gab es von Seite der Regierung einen einseitigen Waffenstillstand von insgesamt 19 Tagen, an denen die Sicherheitskräfte sich nur verteidigten, aber keine Offensiven durchführten.

Der Angriff auf die Provinzhauptstadt Gasni kommt zudem zu einer Zeit, in der erwartet wurde, dass Ghani einen erneuten Waffenstillstand ankündigt. Nach dem Erfolg des ersten Mini-Friedens waren bei vielen Afghanen die Hoffnungen groß, einen zweiten auf einen längeren Zeitraum ausdehnen zu können. Der Angriff auf Gasni wird nun wohl jenen Auftrieb geben, die bereits den ersten Waffenstillstand kritisch sahen.

Dem Präsidenten blieb am Freitag zugleich Spott nicht erspart. Tags zuvor hatte er bei einer Rede in der Stadt Kapisa einen erneuten Waffenstillstand angedeutet und euphorisch gesagt: „Und an dem Tag, an dem der Waffenstillstand in Kraft tritt, geben wir den Taliban Eis. Lang lebe Eis!“ Twitter-Nutzer ätzten, die Bewohner von Gasni bräuchten sich keine Sorgen machen, die Taliban seien sicher nur für ein Eis vorbeigekommen.

Sicherheitsexperten wiesen am Freitag darauf hin, dass es dauern könnte, bis die Stadt wieder vollständig von Taliban befreit sei.

Der Angriff auf Gasni ist der zweite auf eine Provinzhauptstadt in diesem Jahr. Mitte Mai überrannten die Extremisten Teile der westlichen Stadt Farah und übernahmen kurzfristig mehrere Regierungsgebäude, bevor sie von Polizisten und Militärs mit Unterstützung von US-Luftangriffen wieder vertrieben wurden. Die nördliche Stadt Kundus war 2015 und 2016 kurzzeitig an die Taliban gefallen.