In Westfinnland hat ein ganzheitliches Programm die Anzahl übergewichtiger Kinder in wenigen Jahren drastisch gesenkt. Was steckt hinter dem Erfolgsrezept?

Stockholm - Es ist zwölf Uhr in der Alakylän Grundschule im westfinnischen Seinäjoki. Draußen bläst ein eisiger Wind. Die Kinder der Klasse 5B essen mit großem Appetit in der Mensa. Es gibt Kartoffeln, Huhn, Gemüse. Der Nachtisch besteht heute aus Beeren. Die sind beliebt. Pommes, Pizza, Burger und Co.? Fehlanzeige. Seit 2013 liefert die Zentralküche nur noch gesundes Essen an alle Schulen des Ortes. Es enthält deutlich weniger Salz, gesättigte Fette und Zucker. Stattdessen wird es besser gewürzt.

 

Finnland ist dank einem 2012 erlassenen Richtlinienkatalog zur Bekämpfung von Übergewicht bei Kindern erstaunlich weit gekommen, lobt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Das Land musste dringend etwas unternehmen: Landesweit war die Zahl übergewichtiger Jungen zwischen 14 und 18 Jahren seit Beginn der Messungen 1977 von sieben auf 25 Prozent gestiegen. Übergewichtige Kinder bleiben oft ein Leben lang dick.

Doch nun hat Finnland diesen Trend gestoppt. Das Paradebeispiel liefert die 60 000 Einwohner zählende Stadt Seinäjoki. Allein bei den Fünftklässlern hat sich die Anzahl übergewichtiger Kinder seit 2013 von 15,9 auf 8,2 Prozent halbiert. „Gerade in unserer Region ist Übergewicht besonders verbreitet bei Erwachsenen. Landwirtschaft dominiert, die Leute essen traditionell viel Fett und Zucker. Auch ist es keine Gegend, in der viele Akademiker leben, bei denen gesundheitsbewusstes Leben in Mode ist“, sagt Leena Koivusilta, Professorin für Gesundheitswissenschaften.

Eltern dürfen keine Torten mehr mitbringen

2013 haben sich alle Verantwortlichen der Stadt an einen Tisch gesetzt. „Ein wenig Geld hat das schon gekostet, aber insgesamt nicht viel“, sagt Koivusilta. So geht es mit der Aufklärungsarbeit vor der Geburt los. Im Familienberatungszentrum erklären Krankenschwestern, wie Eltern ihre Kleinen gesund ernähren und warum das wichtig ist. In den Kindergärten geht es weiter. „Wir haben den Zucker abgeschafft. Eltern dürfen keine Geburtstagstorten mehr mitbringen“, sagt Aija-Marita Näsänen, Chefin der 29 Kindertagesstätten der Stadt. Die Zentralküche beliefert die Kindergärten mit gesundem Essen. „Zudem haben wir mehr Platz für die Bewegungsfreiheit von Kindern geschaffen.“

Auch an der Alakylän Grundschule bewegen sich die Kinder mehr als früher. Im Unterricht gibt es Sitzbälle statt Stühle. Die Konzentration habe nicht gelitten, sagt Grundschulrektor Kimmo Rantanen. „Viele Kinder können sich gerade dann nicht konzentrieren, wenn sie ruhig auf einem Stuhl sitzen müssen. Die Bälle sind da besser. Auch steigert mehr Bewegung und gesünderes Essen letztlich die Konzentration“, sagt Rantanen. Der Lärmpegel sei zwar etwas höher als früher, aber die Kinder haben Lärmschutzkopfhörer die sie bei Stillarbeit aufsetzen können. Während des Unterrichts stehen die Schüler regelmäßig auf, um Kurzgymnastik mit den Lehrern zu machen. Für den Nachmittag wurden Bewegungsgruppen gegründet, damit alle etwas finden, das zu ihnen passt.

Stehpulte und Sitzbölle für die Kinder

Alle Schulkinder sollen sich rund drei Stunden am Tag bewegen, Schulwege mit eingerechnet. „In der Praxis kann es auch nur eine Stunde sein, je nach Schüler“, räumt der Grundschulrektor ein. „Ich war übergewichtig und ständig müde, die anderen haben mich damit aufgezogen. Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich habe mit American Football angefangen“, sagt der Fünftklässler Arttu. „Es kann aber ziemlich nerven, wenn die Lehrer ständig herumlaufen und uns daran erinnern, dass wir uns in den Pausen bewegen sollen.“

An der weiterführenden Schule für 13 bis 16-Jährige gibt es auch Klassenzimmer mit Stehpulten. In den Klassen mit Stühlen stehen die Kinder regelmäßig im Unterricht auf. In einem Unterrichtszimmer gibt es neben der Tafel eine Halterung, an der Klimmzüge gemacht werden können. Der Schulhof wurde so umgebaut, dass er zur Bewegung animiert.

„Warum unsere Kinder so viel schlanker geworden sind, wissen wir nicht. Es ist wohl die Summe aller Maßnahmen und die Bereitschaft aller Beteiligten“, sagt Ulla Frantti-Malinen von der Stadtverwaltung. Finnland ist aber auch gesellschaftlich anders gestrickt als etwa der deutschsprachige Raum. Die ganzheitliche Kinder- und Elternbetreuung erinnert teils an die in sozialistischen Ländern. Das Vertrauen in den Staat ist relativ groß, die Bevölkerung akzeptiert dabei Bevormundung eher als andernorts in Europa.