Nach den verheerenden Überschwemmungen im Norden Indiens warten immer noch Tausende von Pilgern auf Rettung. Die Flut ist auch eine Folge des Raubbaus an der Natur, denn der Tourismus im Hochgebirge hat in den vergangenen Jahren extrem zugenommen.

Kedarnath/Indien - Neun Stunden hing das Leben des 36-jährigen Vijender Singh Negi sprichwörtlich an seinen Fingern. So lange krallte er sich an der Glocke des Lord-Shiva-Tempels im indischen Himalaja-Pilgerort Kedarnath fest, während um ihn das schulterhohe, eiskalte Gebirgswasser toste und ihm die Kleider vom Leib riss. Singh hatte sich mit viel Glück aus der dritten Etage des Hotels neben dem berühmten Tempel gerettet. Stunden später war die Herberge ganz in den Fluten verschwunden, die vor einigen Tagen wie Lawinen die Hänge hinabstürzten. Im Tempel überstand Singh die neunstündige Tortur im Eiswasser dank der Toten. „Ich kletterte auf die Leichen, die im Tempel angeschwemmt wurden, und später habe ich Kleider der Toten angezogen“, erzählt der Überlebende jetzt.

 

Am Mittwoch waren die Behörden immer noch nicht in der Lage, die vielen Toten zu bestatten, die während der vergangenen beiden Wochen in dem fast völlig zerstörten Pilgerort eingesammelt worden waren. Das schlechte Wetter verhinderte Hubschrauberflüge der Streitkräfte, und so konnten 15 Tonnen Brennholz für die Einäscherung nicht aus dem Tal gebracht werden. Zusätzlich blockierten Erdrutsche wegen des neuen heftigen Regens die wenigen Straßen im Bundesstaat Uttarakhand, der am schlimmsten von der Katastrophe betroffen ist. Nach Behördenangaben vom Mittwoch haben 845 Menschen ihr Leben verloren, mindestens 344 werden noch vermisst.

Die Hilfsorganisationen Caritas vermutet bis zu 10 000 Opfer, die Diakonie Katastrophenhilfe geht sogar von 15 000 Toten aus. Immerhin ist es den Streitkräften inzwischen gelungen, einen Großteil der knapp 100 000 Pilger und Bewohner aus dem Hochgebirge in Sicherheit zu bringen, die seit Tagen teilweise ohne Nahrung und Trinkwasser auf steilen Berghängen oder inmitten der Ruinen der verwüsteten Orte ausgeharrt hatten. 4000 warten noch auf Hilfe. Bei schlechter Sicht ist unterdessen ein Rettungshubschrauber mit 20 Personen an Bord abgestürzt. Es gebe vermutlich keine Überlebenden, sagte ein Sprecher der Luftwaffe.

Immer mehr Inder werden zu gläubigen Pilgern

Seit die Wirtschaft Indiens boomt, sind viele Inder sehr viel religiöser geworden. Sie pilgern im Sommer nun zu Tausenden zu den hinduistischen Heiligtümern im Himalaja. Das Geschäft mit der Religion blüht. Das bewiesen während der Rettungsaktionen ausgerechnet die Sadhus und Babus, die Heiligen Männer der Tempel im Himalaja. Soldaten entdeckten bei Durchsuchungen in den weiten Gewändern der evakuierten Priestern Millionen von Rupien in bar oder Schmuck. In der Stadt Kedarnath hatten die Männer ihre Beute in den Ruinen der lokalen Bank und an den unbewachten Spendenkassen der Tempel eingesammelt. Ein Sadhu gestand sogar, Schmuck und Uhren von Toten gestohlen zu haben.

Die Habgier der Priester und ihrer Orden ist eine Ursache der Flutkatastrophe. Während der vergangenen Jahre bauten sie angesichts des Pilgerbooms unzählige Unterkünfte und Gebetsstätten in den engen Tälern und verstopften Flussläufe. Außerdem verursachen 220 Energie- und Bergbauprojekte in 14 Flusstälern zunehmend Probleme. Die Orden leiten Flüsse um, bauen Tunnel und produzieren Geröll, das wie Staudämme wirkt. Zudem sind die Wälder des Bundesstaats während der vergangenen Jahren einem ungezügelten Raubbau zum Opfer gefallen.

Als Mitte Juni plötzlich 375 Prozent mehr Regen als während eines kompletten Monsun über den Bergen des Himalaja niederprasselte, gab es für viele Pilger keine Rettung mehr. Sechs Kilometer oberhalb der am schlimmsten betroffenen Stadt Kedarnath schmolz im Regen der Schnee auf den Bergen. Das Wasser ergoss sich über den Charbari-See und dann über die Stadt. Das löste eine Panik aus, allein hier starben wohl mehrere Hundert Personen.