Mario Teising gehört zur Elite der Uhrmacher. In seiner Werkstatt restauriert er Uhren, die teilweise seit 300 Jahren die Uhrzeit anzeigen. Doch werden Menschen auch nach Corona Luxus schätzen? Über Dinge und ihren Wert.

Herrenberg - Wenn der Uhrmacher Mario Teising von seinem Beruf erzählt, vergleicht er sich mit einem Automechaniker, der Maschinen repariert. Doch wenn man ihm über die Schulter schaut, lassen seine kurzen, präzisen Handgriffe eher an einen Arzt denken. Wie ein Chirurg beugt er sich in einem weißen Kittel und einer Atemschutzmaske über den Tisch. Die Lampe neben seinen Kopf wirft einen Lichtkegel. Über seine Fingerkuppen hat er Fingerlinge gestülpt. In der rechten Hand hält er eine Pinzette, in der Linken den Patienten, eine Augsburger Spindeluhr von 1760.

 

Von ihrer Faszination haben mechanische Uhren auch 700 Jahre nach ihrer Erfindung nichts eingebüßt. Damals dachten Menschen, der Schöpfergott sei eine Art Uhrmacher, der die Welt zum Laufen bringe. Millimetergroße Zinnplatten, Rädchen und Spiralen greifen nach wie vor wie von unsichtbarer Hand gelenkt ineinander. Eine Uhrzeit können Quarzuhren seit über 50 Jahren oder moderne Funkuhren heute zwar weitaus präziser angeben, doch eine Seele, wie Uhrenmacher sagen, findet man nur in der Mechanik. Das ist der verborgene Wert einer Uhr wie sie Mario Teising in seiner Herrenberger Werkstatt restauriert.

Mit 1,0 Abi zum Handwerk

Mit seinem Werkzeug greift Teising nach einem Spindelkloben, einer kunstvoll ausgefrästen Halterung in Form eines Halbmondes, so groß wie ein Fingernagel. Es ist eine Deckplatte, wie sie für frühere Spindeluhren typisch waren. Er setzt den Kloben in die Fassung, rückt ihn mit der Pinzette wenige Millimeter zurecht. Teisings Atem ist gleichmäßig, seine Hände ruhig. Es ist erstaunlich, dass die Platine und Hunderte anderer Bauteile, die wie Kunstwerke anmuten, später hinter einer Abdeckung überhaupt nicht zu sehen sein werden. Damals war es für die Kunden wichtig, dass alle Teile auch schön sind, sagt Teising. „Es macht mich glücklich, wenn ich die Abdeckung löse.“

Der 27-Jährige wächst in Stuttgart auf. Als er sechs Jahre alt ist, schenkt ihm sein Vater, der als Hobby Uhren sammelt, die Omega-Taschenuhr seines Vaters, Teisings Großvaters. Alles daran fasziniert ihn: die eleganten Linien, das klackende Ticken, die Präzision, mit der die Uhr das macht, was sie soll. Er fragt sich, was in dieser Maschine vor sich geht. Mit elf Jahren legt er sich auf einen Beruf fest: Uhrmacher. „Ich habe jedes Fachbuch verschlungen, das ich finden konnte“, erzählt Teising. Seine Lehrer staunen, als er mit einem Abitur von 1,0 eine Ausbildung an einer Feintechnikschule beginnt.

Eine Art Uhrenmuseum im Atelier

Es gibt nicht viele Uhrenmeister in Deutschland, die sich auf die Restauration spezialisiert haben. Seit einem Jahr ist Teising zusammen mit seiner Frau nun in Herrenberg. Beide lernten sich bei ihrem vorherigen Arbeitgeber kennen, dem renommierten Luxusuhrenhersteller Patek Philippe in München. Von dort zogen sie ins Schwabenland. In ihrem Atelier in der Innenstadt präsentiert sich die Uhrengeschichte auf Werkbänken ausgestellt. Herrschaftliche Grandmother Clocks türmen sich über Quarzwecker, Pariser Tischuhren warten neben Taschenuhren, die unter Glasglocken lagern.

Mitunter dauert es Monate, bis Teising eine Uhr wieder zum Laufen bringt. Manchmal wartet er, bis Ersatzteile geliefert werden. Nicht selten muss er sie selbst herstellen, weil es sich um ein Unikat handelt oder die Produkte auf dem Markt nicht zu finden sind. Wie für die barocke Spindeluhr aus Augsburg. Zwei Tage alleine dauerte die Restauration eines abgenutzten Minutentriebs, einer Welle, so groß wie ein Nadelkopf, die das Räderwerk antreibt. Aus Stahl hat Mario Teising an einer Drehbank einen Stift gefräst, ihn gehärtet, poliert, in Form gepresst. Neben der Handarbeit, sucht er auch nach der Geschichte der Uhr, wer sie gefertigt hat, wer sie trug. Jetzt begutachtet er das Werk durch ein Okular. Er sagt: „Ein Hundertstelmillimeter Abweichung und die Arbeit ist hinfällig.“

Werden Menschen Uhren nach Corona schätzen?

Das fertige Ergebnis ist häufig etwas zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunst. Viele seiner restaurierten Werke sind purer Luxus, Uhren, so teuer wie ein Auto. Bis vor wenigen Monaten wuchs dennoch die Nachfrage nach mechanischen Einzelstücken der Marken Piaget, Lange und Söhne und anderer deutscher und Schweizer Uhrmacher. Um über 80 Prozent ist die Ausfuhr dann im April dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahresmonat zurückgegangen. Ein starker Einbruch, der Grund dafür war natürlich das Coronavirus. Auch Teising ist davon betroffen: Es kämen deutlich weniger Kunden, sagt er, wegen der unterbrochenen Lieferketten sei es vor allem am Anfang der Krise schwer gewesen, die Arbeit überhaupt zu erledigen, weil Teile fehlten. Wie lange es dauert, bis die wirtschaftlichen Verhältnisse sich bessern, ist auch unter Uhrmachern eine Preisfrage.

Vielleicht verliert aber auch der Luxus seinen Grund? Teising widerspricht dem energisch. Er hat klare Ansichten dazu, warum Menschen heute überhaupt noch Dinge besitzen, deren Wert sich nicht in einer Funktion, sondern in einer Idee manifestiert: Es seien Ästhetik, Mechanik und Geschichte, die eine Uhr einzigartig machten. „Jeder Kunde, der eine Uhr mitbringt, bringt eine Geschichte mit“, sagt er. Menschen freuten sich, wenn sie das Ticken der Lieblingsuhr ihrer Mutter wieder hörten; wenn ein Erbstück wieder funktioniere. „Menschliche Werte gehen nicht verloren“, sagt er. Vielleicht seien sie nach der Krise noch wichtiger.