Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hält an seiner Kritik fest, dass die Bundesrepublik sein Land zu zögerlich unterstützt. Um das zu ändern, ist der Diplomat bewusst undiplomatisch.

Vor seinem Amtssitz in Berlin-Mitte liegen Blumen, Flüchtlinge aus der Ukraine stehen vor der Konsularabteilung an, ein Mitarbeiter im Tarnanzug öffnet – man muss nicht lang nach Hinweisen suchen, dass sich Andrij Melnyks Land im Krieg befindet. Im Interview redet der Botschafter über Fehler, die ihn ermöglichten, und die Waffen, die ihn beenden sollen.

 

Herr Botschafter, wie sieht ein normaler Kriegstag bei Ihnen aus?

Meine Tage gehen im Moment rund um die Uhr und sind kaum zu planen, alles ändert sich ständig. Es gibt immer wieder kurzfristig Schalten mit Präsident Wolodymyr Selenskyj oder mit meinem Außenminister. Der Präsident ist immer dicht an den Ereignissen – vor allem in Deutschland, will alles genau wissen.

Wie läuft das ab?

Oft gibt es Videogespräche gemeinsam mit unseren Botschaftern in EU-Staaten oder auch in anderen Regionen. Da wird dann präzisiert, wie die aktuellen Aufgaben aussehen, was jetzt das Wichtigste ist. Erst am Montag haben wir eine Stunde über das Thema Waffen gesprochen, es geht um praktische Fragen wie schwere Waffen und Munition, die wir jetzt besonders brauchen.

Reden Sie auch darüber, wie Sie Ihre Rolle ausfüllen? Es mangelt ja nicht an Kritik und Irritationen.

Als Botschafter muss ich die Interessen meines Landes vertreten – und verteidigen. Und wenn unsere Stimme nicht gehört oder ignoriert wird, dann muss ich eben lauter werden.

Sehen Sie Ihre Hauptaufgabe darin, die Öffentlichkeit so zu beeinflussen, dass der politische Druck für die Unterstützung Ihres Landes wächst?

Das gehört auch dazu. Glücklicherweise dürfen wir in der Bundesrepublik leben, einem demokratischen Land mit freier Presse, die auch für Diplomaten ein offenes Ohr hat. In vielen anderen Ländern könnte ein Botschafter so nicht arbeiten. Ich habe erst in Deutschland richtig verstanden, dass die Medien die vierte Gewalt sind. Andererseits habe ich auch die Grenzen ihrer Macht erkannt, weil die Politik Medien oft einfach ignorieren darf. Im Syrienkrieg war das so: Alle wussten, welche Kriegsverbrechen Russland dort an Zivilbevölkerung begangen hat, es gab schreckliche Bilder – so wie jetzt aus Mariupol oder vielen anderen ukrainischen Städten – und die Bundesregierung hat einfach hinweggeschaut.

Was hat das für Sie genau bedeutet?

Dieser Krieg hängt ja eng mit der russischen Invasion in der Ukraine zusammen. Die Gräueltaten in Syrien haben dazu geführt, dass es kaum jemanden mehr in Berlin interessiert hat, wenn bei uns an der Kontaktlinie Zivilisten seit 2014 Tag und Nacht zerbombt wurden. Syrien war nicht nur der größere Schrecken – es war auch der Ort, an dem man rote Linien etwa zum Chemiewaffeneinsatz gezogen und dann vergessen hat. Für mich war das eine schlimme Erfahrung, dass so großer Handlungsbedarf seitens der Weltgemeinschaft bestand und doch nicht gehandelt wurde. Alle wussten auch um Putins Verantwortung und keiner hat auch nur den kleinen Finger krumm gemacht – auch nicht Herr Steinmeier als Außenminister, um Russland dafür hart zu bestrafen.

Ist das ein Grund für Sie, jetzt den Druck so hoch zu halten?

Ja, das ist meine persönliche Lehre aus dieser bitteren Erfahrung. Ich agiere intuitiv, höre auf mein Herz. Die Deutschen können ja logisch alles verstehen, was gerade passiert. Aber es gibt immer öfter Situationen, in denen man entweder das Mittel der Emotion oder Provokation nutzen muss. Anders geht es nicht in diesem schlimmsten Krieg in Europa seit 1945.

War es Ihrer Sache wirklich dienlich, Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier abblitzen zu lassen?

Ich kann verstehen, dass es vielleicht emotional schwierig ist, das zu verkraften. Aber ich glaube, vielleicht war diese kalte Dusche einmal notwendig. Der Bundespräsident hat seit Beginn des Krieges kein einziges Mal meinen Präsidenten Selenskyj angerufen, er hat ihm kein einziges Schreiben von Unterstützung und Solidarität geschickt wie viele andere Staatschefs. Und das obwohl die beiden sich früher oftmals getroffen haben und gut kannten. Um klarzustellen: es gab keine Einladung an Herrn Steinmeier, die Ukraine zu besuchen. Daher wäre es nicht fair, sich über eine „Ausladung“ aufzuregen. Plötzlich wollte der Bundespräsident im Geleitzug mit seinen Kollegen aus dem Baltikum und Polen nach Kiew kommen. Man hat versucht, sehr diplomatisch zu vermitteln, dass dieser Besuch lieber zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen könnte. Nicht wir haben diese Nachricht öffentlich gemacht, das waren andere.

Nun hat der Kanzler auf den Dauerdruck reagiert. Ihr Land kann mehr Waffen aus Deutschland kaufen, es gebe dafür eine Industrieliste. War das das, worauf Sie gewartet haben?

Das ist doch gar nicht die starke militärische Unterstützung, auf die wir aus Berlin hoffen. Das Problem ist, dass sich auf dieser bereinigten Liste keine schweren Waffen finden. Somit ist uns auch nicht klar, wofür wir die zusätzliche Milliarde Euro, die dankenswerterweise für Waffenkäufe bereitgestellt werden, eigentlich ausgeben sollen. Geld allein bringt noch nicht viel. Auch die Zeit läuft uns davon. Ich kann nicht verstehen, warum Deutschland immer als Schlusslicht richtige Entscheidung trifft.

Was passiert jetzt?

Wir werden ein weiteres Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und unserem Präsidenten organisieren. Sie müssen dringend klären, was wir nun konkret kaufen können. Meine Hoffnung ist, dass das Geld vorrangig für die schweren Waffen eingesetzt werden kann, die wir jetzt, da die russische Großoffensive in vollem Gange ist, am dringendsten brauchen. Ich werde auch weiter darauf drängen, dass auch die Bundeswehr uns noch mehr Waffensysteme von ihren Beständen abgibt.

Die seien „erschöpft“, sagt Ministerin Christine Lambrecht.

Viele Vertreter deutscher Rüstungsindustrie sagen mir, dass das nicht stimmen kann. Die Bundeswehr könnte immer noch viel mehr liefern, auch gepanzerte Fahrzeuge, vor allem den Marder.

Die wiederum seien an der Nato-Ostflanke in Litauen gebunden, heißt es bei der Bundeswehr.

Erst vor ein paar Tagen saß der Chef eines wichtigen Rüstungsunternehmens hier bei mir. Wir haben nochmals über den Vorschlag von Anfang März gesprochen: Etwa 100 der rund 400 Bundeswehr-Marder dienen nur der Ausbildung. Würde man sie uns sofort übergeben, könnten diese durch die Generalüberholung ausgemusterter Geräte innerhalb von wenigen Monaten ersetzt werden. Das Argument, dass die Einweisung durch deutsches Personal völkerrechtlich einem Kriegseintritt gleichkomme, greift auch nicht: die Industrie sagt uns, ihre Ausbilder könnten dies direkt mit unserer Armee tun. Das wäre eine Frage von maximal drei Wochen oder noch schneller, da unsere Soldaten ja schon Erfahrungen mit ähnlichen Panzern haben. Mit politischem Willen wären die ersten 20 oder 30 Stück bereits übergeben worden.

Diente Ihr Gespräch mit SPD-Chefin Saskia Esken dieser Willensbildung? Sind die Sozialdemokraten für Sie das Hauptproblem?

Die SPD ist die größte und einflussreichste Regierungspartei, aber auch die Partei, in der es noch sehr viel inneren Widerstand dagegen gibt, sich auf die neue dunkle Welt einzustellen, in der wir seit dem 24. Februar leben müssen. Ich verstehe, wie schwer das gerade für die ältere Generation von SPD-Abgeordneten sein muss, nun auch gegen frühere außenpolitische Überzeugungen handeln zu müssen – uns gefällt die neue Realität am allerwenigsten.

Brandts Ostpolitik gehört zur DNA der SPD und war historisch verdienstvoll. Wann wurde die Russlandpolitik für Sie problematisch?

Die Wurzeln unseres heutigen Problems liegen wohl in der Zeit während und nach der Wiedervereinigung. Die Deutschen waren den Russen, insbesondere Michail Gorbatschow, zu Recht dankbar. So hat man noch Jahrzehnte später über Fehlentwicklungen in Moskau und die gar nicht mehr so freundlichen Absichten eines Wladimir Putin hinweggesehen und immer engere Wirtschaftsbeziehungen geknüpft und Deutschlands Abhängigkeit von Moskau ständig erhöht. Vor allem Putin, der die deutsche Seele, die Sympathien für Russland im Osten und das tiefe Bewusstsein für die historische Schuld gegenüber der Sowjetunion genau kennt, hat dann irgendwann gespürt, dass sich die Deutschen damit auch instrumentalisieren lassen.

Und das soll alles ein SPD-Problem sein? Regiert hat 16 Jahre lang Angela Merkels CDU.

Die ganze deutsche Politik muss sich hinterfragen. Manche Unionspolitiker, die nun machtvoll die Regierung für ihre Untätigkeit gegenüber der Ukraine kritisieren, haben mir vor wenigen Monaten noch erklärt, dass Deutschland uns auf keinen Fall Waffen liefern darf. Einmal hat Angela Merkel persönlich verhindert, dass wir 90 Scharfschützengewehre bei der NATO 2021 kaufen können. Klingt absurd. Der neue CDU-Chef Friedrich Merz kann glaubwürdiger auftreten, da er nicht Teil der unionsgeführten Bundesregierungen war.

Was machte sie jenseits vom Festhalten an Nord Stream II falsch?

Aus unserer Sicht war das vor allem das starre Festhalten an der Minsker Vereinbarung, obwohl die Russen sie seit Ende 2015 de facto begraben haben. Nach der Annexion der Krim 2014 lautete wohl der Deal zwischen Berlin und Washington, dass die Amerikaner uns nicht mit Waffen beliefern, dafür aber Europa und allen voran Deutschland diplomatisch das Kommando übernehmen. Wir haben das Minsker Abkommen unterstützt, da es immerhin den Rückzug russischer Truppen von unserem Territorium und die Wiederherstellung unserer Souveränität über die besetzten Gebiete im Donbass vorsah. Aber schon im Herbst 2015 begann Russland einen barbarischen Krieg in Syrien und wurde daher zur „Lösung“ dieses Konfliktes gebraucht, genauso wie für die Atomgespräche mit dem Iran.

Was war die Folge?

In den mehr als 100 Treffen im Normandie-Format wurde irgendwann nur noch Druck auf die Ukraine gemacht, dass wir als die „Vernünftigen“ in Vorleistung bei der Umsetzung von Minsk gehen. Merkel und ihre Außenminister wussten sehr genau, dass sich Putin immer aggressiver über die Ukraine äußerte und keinen Frieden, sondern einen neuen Krieg wollte, ließen es aber laufen. Der immer stärker werdende Wirtschaftseinfluss Russlands tat ein Übriges: Noch 2019 hat Peter Altmaier nahe Moskau ein neues Mercedes-Werk an der Seite Putins eingeweiht.

Immerhin verhinderte man, dass die damaligen EU-Sanktionen gelockert wurden. Diese Debatte gab es auch.

Wir haben nicht vergessen, dass FDP-Chef Christian Lindner im Wahlkampf 2017 de facto die Krim-Annexion als „dauerhaftes Provisorium“ akzeptieren wollte. Als ich ihn dafür kritisierte, wollten mich manche in dieser Partei zur Persona non grata erklären lassen. Mein verzweifelter Ruf nach schärferen Sanktionen gegen Putin ist damals völlig verhallt. Wären die gleichen harten Strafmaßnahmen, die erst nach der russischen Aggression am 24. Februar diesen Jahres eingeführt wurden, bereits nach der Krim-Intervention 2014 gegen den Kreml verhängt worden, wäre es nie zu diesem heutigen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine gekommen.

Jetzt geht es um ein Energieembargo. Die Regierung argumentiert, ein Gas-Importstopp würde weniger Putin als Deutschland schwächen, man verliere die Fähigkeit zu helfen. Nehmen Sie das nicht ernst?

Doch, natürlich, uns ist ja nicht egal, was mit Deutschland, einem unserer wichtigsten Partner, geschieht. Es fehlt aber immer noch eine offene Debatte, in der die unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen von Wissenschaftlern zu einem sofortigen Gas- und Ölembargo gehört werden. Am Anfang war die Zustimmung in der Bevölkerung für einen Importstopp hoch. Dann hat die Regierung begonnen, den Deutschen ein Schreckensszenario vorzustellen, wonach es nicht nur zwei Grad kälter im Wohnzimmer wird, sondern ganze Wirtschaftszweige zusammenbrechen. Auch die Industrie hat mit ihren Lobbyisten die Menschen noch mehr eingeschüchtert. Die Unterstützung für ein Embargo sank. Worum ich bitte: die Ampel sollte sich auch mit anderen Analysen auseinandersetzen und nicht wie der Kanzler bei Anne Will alles für unseriös halten, was nicht aus der Regierung kommt. Das Bild ist nicht so einseitig.

Embargos für Kohle und Öl sind ja auf dem Weg. Sie werben also weiter für ein sofortiges Gas-Embargo?

Ja, ich werbe für ein sofortiges Moratorium. Man könnte doch sagen, wir machen ein Embargo für ein oder zwei Monate und schauen auf das Verhalten von Putin. Ich bin davon fest überzeugt, dass dies eine entscheidende Wirkung auf ihn ausüben wird und dazu beiträgt, diesen sinnlosen blutigen Krieg zu stoppen und nicht mit 32 Milliarden Euro Zahlungen pro Jahr eher zu verlängern.

Andrij Melnyk

Diplomatisch
 der 46-jährige Andrij Melnyk, geboren in Lwiw, dem früheren Lemberg, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte, vertritt sein Land seit gut sieben Jahren in der Bundeshauptstadt. Sein fast akzentfreies Deutsch geht auch auf die Zeit von 2007 bis 2010 zurück, als er ukrainischer Generalkonsul in Hamburg war.

Undiplomatisch
 Schon vor einem ersten Treffen 2017 kündigte seine Assistentin an, dass ihr Chef „ausgesprochen offen“ rede. Das blieb einer größeren Öffentlichkeit lange verborgen, auch weil ihr Interesse am Ukrainekonflikt nicht sonderlich groß war. Das hat sich mit Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar radikal geändert. Der Botschafter wird gehört – und polarisiert mit seinen Botschaften zugleich mehr denn je.