Die harten Haftbedingungen für Julia Timoschenko zeigen, dass Premier Janukowitsch seine Macht weiter ausbaut. Oppositionelle werden massiv bedrängt.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Charkow - Ausgerechnet aus der Stadt, in der am 9. Juni der erste EM-Ball über ukrainischen Rasen rollen soll, erreicht die Welt eine bedrückende Botschaft. Sie sei am vergangenen Freitag von drei in ihre Zelle eingedrungenen Männern brutal zusammengeschlagen worden, berichtete die frühere Premierministerin Julia Timoschenko zu Wochenbeginn in einem offenen Brief aus dem Gefängnis im EM-Spielort Charkow. „Ich dachte, dies sind die letzten Minuten meines Lebens. Wenn du hinter geschlossenen Mauern bist, völlig isoliert von der Welt und drei Metzger mit wutergrimmten Mienen sich um dich ‚kümmern‘, wird einem klar, was für ein Land wir in 20 Jahren der Unabhängigkeit geschaffen haben. Wir haben kein Recht, es unseren Kindern in einem solch inhumanen Zustand zu hinterlassen“, schreibt sie.

 

Unter dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs während ihrer Zeit als Regierungschefin war die Oppositionschefin im August letzten Jahres in Kiew verhaftet worden – und im Oktober trotz heftiger Proteste der EU, Moskaus und der westlichen Öffentlichkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Seit der Bestätigung der Haftstrafe durch das Berufungsgericht ist die einstige Akteurin der sogenannten orangefarbenen Revolution im Norden von Charkow im Frauenstraflager Katschanowka inhaftiert.

Timoschenko: Janukowitsch will Opposition enthaupten

Den juristischen Rachefeldzug von Staatspräsident Viktor Janukowitsch gegen sie wertet die 52-Jährige als Versuch, die Opposition zu „enthaupten“. Das Gastgeberland der EM werde unter Missbrauch aller staatlichen Ressourcen in ein „Konzentrationslager der Gewalt und der fehlenden Menschenrechte“ umgewandelt, so die schwer erkrankte Timoschenko, die seit Freitag in den Hungerstreik getreten ist: „Ich flehe die demokratische Welt und alle gesunden Kräfte in der Ukraine an, diese Bedrohung für ganz Europa sofort zu stoppen.“

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch hat zugesagt, die Misshandlungsvorwürfe Timoschenkos überprüfen zu lassen. Er habe Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka beauftragt, die Vorgänge im Gefängnis in Charkow persönlich zu untersuchen, sagte Janukowitsch am gestrigen Donnerstag. Er hoffe, schnell eine konkrete Antwort zu bekommen.

Bundespräsident Gauck fährt nicht auf die Krim

Bundespräsident Joachim Gauck hat nach Rücksprache mit Bundeskanzlerin Angela Merkel seine für Mai geplante Krimvisite mittlerweile abgesagt. Vom Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung über das russische Außenministerium bis hin zum Europarat reicht der internationale Protestchor, der die sofortige Freilassung Julia Timoschenkos und ihre medizinische Behandlung im Ausland fordert.

Vor sieben Jahren schien der zweitgrößte Flächenstaat des Kontinents noch an der Schwelle eines demokratischen Aufbruchs in eine europäische Zukunft zu stehen. Im kalten Winter 2004/2005 waren nach der Vergiftungsattacke auf den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Viktor Juschtschenko und offensichtlichen Wahlmanipulationen im eisigen Kiew Hunderttausende wochenlang gegen Wahlbetrug und das autoritäre Unrechtsregime des scheidenden Staatschefs Leonid Kutschma auf die Straße gegangen. Der Volksaufstand in Orange zwang Kutschmas Statthalter, den zunächst zum Wahlsieger erklärten Viktor Janukowitsch, in die erneute Stichwahl. Bei der Wiederholung des Urnengangs wurde schließlich Oppositionschef Juschtschenko zum Präsidenten gewählt: Seine Mitstreiterin Timoschenko ernannte er Anfang 2005 zur Regierungschefin.

Die Hoffnungen auf Demokratisierung blieben unerfüllt

Die orangefarbenen Flitterwochen sollten nur kurz währen. Als der europäische Fußballverband Uefa Ende 2005 im späten Sog der Orange-Euphorie der Ukraine und Polen den EM-Zuschlag gab, hatten sich die einstigen Revolutionsheroen längst zerstritten, war die Aufbruchstimmung verflogen – und Timoschenko bereits zeitweise in die Opposition gewechselt. Unter den endlosen Machtkämpfen der hart um ihre Pfründe streitenden Politdiadochen hatten in der Folgezeit nicht nur die EM-Vorbereitungen zu leiden, sondern blieben auch die Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Neubelebung und Demokratisierung des gebeutelten Landes auf der Strecke.

Doch erst als der einstige Revolutionsverlierer Viktor Janukowitsch mit fünfjähriger Verzögerung Anfang 2010 doch noch in den Präsidentenpalast einzog, sollten die letzten Errungenschaften der vermeintlichen Revolution endgültig purzeln. Seit der Machtübernahme des 61-jährigen Metallarbeitersohns aus dem Bezirk Donezk segelt die frühere Sowjetrepublik wieder auf einem stramm autoritären Kurs. Sofort nach seinem hauchdünnen Wahlsieg gegen seine Rivalin Timoschenko setzte Janukowitsch allen orangefarbenen Wunschträumen für eine Annäherung an die Nato ein jähes Ende – und verlängerte die Stationierungsverträge der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim um ein Vierteljahrhundert. Die 2004 verabschiedete Verfassung, die dem Parlament ein größeres Mitspracherecht gegeben hatte, ließ er durch ein neues Grundgesetz ersetzen, das ein autoritäres Präsidialregime wie zu Kutschmas Zeiten legitimierte.

Gängelung der Opposition und der Presse

Die Zentralisierung der Macht geht mit wachsender Gängelung der Opposition und Presse einher: Wie Timoschenko wurden ihr früherer Innenminister Juri Luzenko zu vier Jahren und auch ihr einstiger Verteidigungsminister Valeri Iwaschtschenko zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Proteste des Westens verhallen bislang ungehört. Angesichts der miserablen Wirtschaftslage und fallender Umfragewerte vor den Parlamentswahlen im Oktober scheint der Staatschef am Vorabend der Fußball-Europameisterschaft die Repressionsschrauben selbst noch anzuziehen.