Wladimir Putin inszeniert sich als starker Mann, ist oft zu sehen, aber schwer zu durchschauen. Eine Analyse.

Warschau - Joe Biden versucht es am Samstag ein letztes Mal. Auch Emmanuel Macron ruft noch einmal im Kreml an. Ohne Ergebnis. Die womöglich allerletzte Chance, die Ukraine-Krise diplomatisch beizulegen, bekommt Olaf Scholz. Der Bundeskanzler reist am Dienstag nach Moskau und trifft sich persönlich mit dem Mann, bei dem die Entscheidung über Krieg und Frieden liegt: Wladimir Putin.

 

Der russische Präsident ist zugleich Oberbefehlshaber jener Armee, die einen Ring um die Ukraine gezogen hat und nun jederzeit eine Invasion beginnen könnte. Davon zumindest sind westliche Geheimdienste überzeugt. Was sie nicht wissen können: Wird Putin den Marschbefehl erteilen? Die Antwort auf diese Frage kennt nur der russische Präsident selbst. Denn in dem autokratischen System, das Putin in 22 Jahren an der Macht errichtet hat, entscheidet er allein. Deshalb lohnt der Blick auf diesen Mann, den die Welt zu kennen meint.

Man hat ihn ja schon endlos oft gesehen. Wie er breitbeinig in irgendeinem Sessel sitzt und dabei viel größer wirkt, als er ist. Gerade 1,70 Meter sind es. Man hat seine scharfzüngigen Antworten im Ohr: „Sind wir etwa an die USA herangerückt? Sie müssen uns Garantien geben. Und zwar jetzt, sofort.“ So stellt er im Dezember eine westliche Journalistin in den Senkel, die es wagt, nach Garantien für die Ukraine zu fragen. Im Oktober wird Putin 70 Jahre alt. Man sieht es ihm nicht an. Das mag an den Eisbädern liegen, die er im Winter nimmt und sich dabei publikumswirksam ablichten lässt. Über angebliche Schönheitsoperationen des Kremlchefs kursieren seit Jahren Gerüchte. Sicher ist, dass sich Putin immer wieder als starker Mann in Szene setzen lässt – bei der Tigerjagd oder hoch zu Ross, mit nacktem Oberkörper.

Tote säumen Putins Weg

In Russland kommt so etwas an. Aber klar ist auch: Um seine Stärke zu demonstrieren, bräuchte Putin die Bilder nicht. In Moskau und dem ganzen riesigen Reich wissen sie längst, wie weit der Arm des Präsidenten reicht. Zu viele Tote säumen seinen Weg. Beispielhaft genannt seien die Namen der legendären Reporterin Anna Politkowskaja und des populären Oppositionspolitikers Boris Nemzow, die beide erschossen wurden. 2006 und 2015 war das. 2020 trifft es Alexej Nawalny, der einen Giftanschlag knapp überlebt und nun in einem Straflager einsitzt. In all diesen Fällen führt keine Spur direkt zu Putin. US-Präsident Biden ist dennoch überzeugt, dass sein russischer Kollege „ein Killer“ ist.

Putin hat in Russland eine „Vertikale der Macht“ geschaffen. Alles beginnt oben, im Kreml, und von dort wird nach unten durchregiert. Die zentralen ausführenden Organe sind die Geheimdienste FSB (Inland) und GRU (Ausland). Deren Spitzen gehören zu Putins engstem Beraterkreis, zu jenen Männern, die sie in Russland die „Silowiki“ nennen: die Starken. Im Westen würde man von den Falken sprechen, in Abgrenzung von den friedliebenden Tauben, die es im Kreml aber nicht gibt.

Putins Kindheit im Leningrad der Nachkriegszeit ist ärmlich. Der junge Wladimir prügelt sich in den Hinterhöfen, wo das Recht des Stärkeren gilt. Weil er klein ist, lernt er Judo und kämpft mit Köpfchen. Das große Vorbild ist der Vater, der im Krieg als Agent hinter der Feindeslinie deutsche Stellungen sabotierte. Folgerichtig führt Putins Weg in die Kaderschmieden des KGB. Doch dann bricht 1991 die Sowjetunion zusammen. Als Präsident spricht er später von der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Der Satz ist inzwischen weltberühmt. Weniger bekannt ist die Begründung. Millionen Russen, erklärt Putin, hätten sich von heute auf morgen „im Ausland“ wiedergefunden und damit in einem völlig fremden Leben. Das lässt erahnen, wie es Putin in den 90er Jahren erging. Auf der Suche nach Halt schließt er sich dem Petersburger Reformbürgermeister Anatoli Sobtschak an. Später schafft er es nach Moskau, wo er zum Chef des Geheimdienstes FSB aufsteigt. Er gehört schon zu den Silowiki, als er Präsident wird. Doch damals ist keineswegs ausgemacht, wohin Putins Reise geht.

Gelenkte Demokratie als Ziel

2001 hält er im Bundestag eine Rede, in der er die Hand weit Richtung Westen ausstreckt. „Wir sehen die europäische Integration mit Hoffnung“, sagt er und verspricht, niemand werde Russland je wieder in die Vergangenheit zurückführen: „Das Hauptziel ist die Garantie der demokratischen Rechte und der Freiheit.“ In der Realität geschieht aber das Gegenteil. Anfangs ist noch von der „gelenkten Demokratie“ die Rede, die Stabilität sichern soll. Doch dann sterben die ersten Kritiker. Und 2012, als Putin nach einer Rochade im Präsidentenamt mit seinem Vertrauten Dmitri Medwedew in den Kreml zurückkehrt, lässt er Proteste blutig niederschlagen.

Ist an all dem der Westen schuld, der die Nato immer weiter nach Osten ausdehnt und zuletzt auch einen Beitritt der Ukraine nicht mehr ausschließt? Ob Putin von Furcht getrieben ist, von einem ungebändigten Machtwillen oder von beidem, darüber lässt sich viel spekulieren. Sicher ist vor allem eines: Putin setzt während seiner 22 Jahre an der Spitze Russlands stets alles daran, Stärke zu zeigen und nie eine Schwäche. Ohne Ausnahme. Als in Kiew 2014 die proeuropäischen Maidan-Proteste eskalieren, lässt er sich zunächst zwar auf einen Kompromiss ein, doch als die Aufständischen den kremltreuen Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Land treiben, ist Putin vorbereitet – und lässt die Krim annektieren.

Man könnte viele solcher Beispiele erzählen. Wie die Türkei 2015 einen russischen Kampfjet abschießt und Putin das Land daraufhin mit Sanktionen überzieht, bis sich der sonst so stolze Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich entschuldigt. Oder wie Putin bei Gesprächen auf Gipfelebene regelmäßig zu spät kommt. Seine Devise: nie der Erste sein, nie Schwäche zeigen. Immer die anderen warten lassen, immer Stärke demonstrieren. Ob das alte KGB-Schule ist oder Putins Psyche entspringt, lässt sich nicht entscheiden. Sicher sagen lässt sich aber dies: In der Ukraine-Krise sollte niemand vom Oberbefehlshaber der russischen Armee ein Entgegenkommen erwarten, das als Schwäche interpretiert werden könnte.