Der TV-Star Wolodymyr Selenskyj hat bei der Stichwahl in der Ukraine den von der EU und den USA unterstützten Präsidenten Petro Poroschenko besiegt. Aber kann ein Komiker ohne politische Erfahrung das von einem Krieg geschwächte Land aus der Krise führen?
Kiew - Der Schauspieler und politische Quereinsteiger Wolodymyr Selenskyj hat die Stichwahl um das Präsidentenamt in der krisengeschüttelten Ukraine klar gewonnen. Der prowestliche 41-Jährige setzte sich am Sonntag mit großem Abstand gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko durch. Der 53-jährige Präsident räumte in Kiew seine Niederlage ein. Die Auszählung der Stimmzettel zog sich hin. Nach ersten Ergebnissen schnitt Selenskyj mehr als doppelt so stark ab wie der Amtsinhaber. Prognosen sahen ihn bei 73 Prozent, Poroschenko dagegen nur bei 25 Prozent der Stimme. Einige Wahlzettel waren ungültig.
Der Fernsehstar kündigte an, sich zuerst um den Krieg im Osten der Ukraine kümmern zu wollen. „Wir werden die Verhandlungen fortsetzen und bis zum Ende gehen, damit das Feuer eingestellt wird“, sagte er in Kiew. Wichtigste Aufgabe sei es, seine Landsleute aus der Gefangenschaft aus Russland und der Ostukraine zu befreien.
Die Wahl ist in mehrfacher Hinsicht historisch
Seit 2014 kämpfen in den Gebieten Donezk und Luhansk Regierungssoldaten gegen prorussische Separatisten. Rund 13 000 Menschen sind dabei nach UN-Angaben getötet worden. Der unter anderem durch deutsche Vermittlung ausgehandelte Minsker Friedensplan steckt seit Jahren fest. Selenskyj sprach sich dafür aus, den Friedensprozess rasch wiederzubeleben.
Die Wahl ist in mehrfacher Hinsicht historisch: Mit Selenskyj kommt in dem Land zwischen der EU und Russland erstmals ein Staatsoberhaupt ohne jedwede Regierungserfahrung ins Amt. Es wäre auch das höchste Ergebnis, das je ein Präsident der unabhängigen Ukraine erzielt hat. Selenskyj, der jüngste Präsident der ukrainischen Geschichte, strebt wie Poroschenko einen EU-Beitritt an. Über einen umstrittenen Nato-Beitritt der Ukraine soll eine Volksabstimmung entscheiden.
Dagegen musste der zuletzt noch in Berlin von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) empfangene Poroschenko nach fünf Jahren im Amt eine Niederlage hinnehmen. Er hatte einen antirussischen Wahlkampf geführt. Poroschenko warnte davor, dass der russische Präsident Wladimir Putin sich das Land unterwerfen wolle. Selenskyj wies dabei Vorwürfe zurück, eine russische Marionette zu sein. Viele sahen in der Linie Poroschenkos ein Manöver, um von den schweren innenpolitischen Problemen - wie der Armut - abzulenken.
Am Wahlabend gratulierte Poroschenko dem Sieger telefonisch. Er werde zwar das Amt, aber nicht die politische Bühne verlassen, sagte er. Mit seiner Partei wolle er eine starke Opposition bilden. „Ich werde weiter in der Politik bleiben und für die Ukraine kämpfen“, sagte der scheidende Präsident. Der Oligarch Poroschenko war nach den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan - dem Unabhängigkeitsplatz - in Kiew vor fünf Jahren der große Hoffnungsträger der EU und der USA.
Kritiker: Populist ohne echtes Programm
In Moskau sprach der prominente russische Außenpolitiker Konstantin Kossatschow von einer „krachenden Niederlage“ für Poroschenko. Es sei noch zu früh, mit dem Sieg Selenskyjs Hoffnungen zu verbinden, sagte er der Agentur Interfax zufolge. Aber Russland wünsche ihm, dass er ein eigenständiger Präsident eines unabhängigen Landes werden könne. Die Abstimmung zeige, dass die Menschen sich mit ihren innenpolitischen Problemen beschäftigen wollten, sagte der Chef des Auswärtigen Ausschusses im russischen Föderationsrat. Eine Sprecherin des Außenministeriums in Moskau meinte, dass es nun eine Chance für einen Neustart in der Ukraine gebe.
Der in seiner Heimat gefeierte Showstar Selenskyj spielt seit Jahren einen Präsidenten der Comedy-Serie „Sluha Narodu“ - zu Deutsch: Diener des Volkes. Wie in der Serie des Fernsehsenders 1+1, in der ein Geschichtslehrer überraschend Staatschef wird, will er nun als „einfacher Mensch“, wie er sagt, das von Korruption geprägte System in seiner Heimat zerstören. „Ich werde euch niemals hinters Licht führen“, versprach er am Abend.
Kritiker werfen dem Komiker vor, ein Populist ohne echtes Programm für die Zukunft des Landes zu sein. Immer wieder Thema ist auch Selenskyjs Nähe zu dem Oligarchen Igor Kolomoiski, der mit seinem TV-Kanal 1+1 Stimmung gegen Poroschenko machte.
Das zwischen ukrainischen Nationalisten und russlandfreundlichen Bevölkerungsteilen hin und her gerissene Land zu einen, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für den neuen ukrainischen Präsidenten gehören. Viele Menschen hoffen besonders auf mehr Wohlstand - vor allem auf steigende Löhne und Renten sowie sinkende Lebenshaltungskosten.
Selenskyjs Sieg war erwartet worden
Selenskyjs Sieg war zwar nach Umfragen der vergangenen Wochen erwartet worden. Der studierte Jurist hatte erst in der Neujahrsnacht seinen Wechsel in die Politik bekanntgegeben. Seinen Wahlkampf führte er vor allem in den sozialen Netzwerken mit markigen Videos.
Unklar ist aber, wie er die hohen Erwartungen der Bevölkerung erfüllen kann. Er stützt sich zwar auf eine nach seiner Fernsehsendung benannte Partei. Vertreten ist diese aber bisher nicht im Parlament. Selenskyj wäre damit auch der erste Präsident ohne eine eigene Machtbasis. Bis zum Amtsantritt hat er noch einige Wochen Zeit. Er hält es für möglich, dass er angesichts unklarer Machtverhältnisse in der Obersten Rada die eigentlich für Oktober vorgesehene Parlamentswahl vorzieht.
Soziologen hatten im Vorfeld immer wieder von einer Protestwahl gegen den schwerreichen Poroschenko gesprochen, der unter anderem ein Süßwarenimperium besitzt. Auch Selenskyj hatte Poroschenko vorgeworfen, er sei im höchsten Staatsamt immer reicher geworden. Dagegen sei das Land noch weiter verarmt. Poroschenko war vor fünf Jahren nach dem Sturz des nach Russland geflüchteten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch damals im ersten Wahlgang mit knapp 55 Prozent der Stimmen gewählt worden.