Ukrainerinnen schießen Drohnen ab Die Hexen von Butscha auf Verteidigungskurs

Ukrainische Kämpferinnen verteidigen den Luftraum und schießen russische Drohnen ab. Foto: imago/Miguel Candela

In der Ukraine kämpft eine Gruppe entschlossener Frauen gegen die russischen Truppen. Sie verteidigen die neue Gefechtslinie im Himmel – im Schichtdienst, zwischen Muttersein und Job.

Samstagmorgen, 7. 45 Uhr. Minus elf Grad. In einem schneebedeckten Wald bei Kiew stehen Frauen in Uniform, über ihren Schultern hängen Kalaschnikows des Typs AK-74. Sie nennen sich selbst „Die Hexen von Butscha“.

 

Drei Soldatinnen befüllen gut gelaunt einen Patronengurt mit Munition. Die Anführerin der Gruppe, Kalypso, hat auf ihrem Handy ein ukrainisches Militärlied eingeschaltet, fröhlich singen sie alle mit und wippen im Takt: „Es ist schon Abend/das Partisanenherz schlägt/Und der Patronengurt eilt/die Munition zu geben/Ach, Gurt um Gurt – reich die Munition/Ukrainischer Partisan, weich nicht im Gefecht zurück!“

Auf dem Trainingsgelände wird Schießen geübt. Die schweren Maxim-Maschinengewehre stammen noch aus Sowjetzeiten – alt, aber zuverlässig. Die Munition lagert noch aus Sowjetzeiten in den Arsenalen. Für bessere Treffsicherheit sind sie auf den Ladeflächen der Pick-up-Trucks auf einem Gelenk befestigt, um später die russischen Raketen und Drohnen vom Himmel holen zu können. Ein Offizier brüllt Befehle auf Ukrainisch, seine Worte hängen für einen Moment als heiße Dampfwolke in der eisigen Luft. Rote Funken schießen aus der Spitze des Maschinengewehrs, jeder Knall erzeugt ein Klingeln in den Ohren und Vibration im Torso.

Vor dem Krieg reiste Kalypso gerne

Die Hexen schießen auf ihren Missionen nicht auf Menschen, sondern auf die Gefahr von oben. Viele Männer seien derzeit an der Front, „jemand muss den Himmel beschützen“, erklärt Kalypso, die im Frühling 2024 die Hexeneinheit mitbegründet hat und Kommandantin der Einheit ist. Ihren Kampfnamen bekam sie von anderen Soldaten, ihren Klarnamen möchte sie nicht öffentlich machen. Vor dem Krieg ist sie gerne vereist. Wo sie nach dem Krieg sein möchte? Am Strand, witzelt sie. Aber in aller Ernsthaftigkeit: „Ich möchte beim Wiederaufbau helfen.“

Inspiration für die Bezeichnung „Hexen von Butscha“ war ein Emblem aus Klett, das sie beim Eintritt ins Militär an ihre Uniform heftete. Darauf waren eine Hexe und ein Besen zu sehen. Den Patch hat sie mittlerweile einem kleinen Mädchen geschenkt. Ihre Uniformen weisen ihre Blutgruppe und den Namen ihrer Einheit aus, viele haben sich individuelle Glücksbringer oder Patches an ihr Outfit geklebt, Sprüche wie: „Ich bin nicht in Gefahr, ich bin die Gefahr“ oder „No Lives Matter“.

In der Ukraine sind Hexen kulturell meist positiv konnotiert. Für Valentyna, die den Kampfnamen Walkyria trägt, bedeuten die Hexen von Butscha gegenseitige Unterstützung: „Wir sind ein Herz, eine Seele“, erzählt sie auf dem Trainingsgelände. Insgesamt 130 Frauen sind Teil der Einheit. Sie leisten eine 24-Stunden-Schicht ab und haben dann drei Tage Pause. Diese Regelung erlaubt es auch berufstätigen Frauen und Müttern militärisch aktiv zu sein. „Vor der Invasion vor drei Jahren gab es wenige Frauen, die über einen Militärdienst nachgedacht haben“, erklärt Kalypso. Doch der Krieg hat das verändert: Sie wollen helfen und ihr Land verteidigen.

Derzeit sind laut den Zahlen des ukrainischen Verteidigungsministeriums 68 000 Frauen in den Streitkräften der Ukraine. Die Soldatinnen haben sich freiwillig verpflichtet, und seit der Invasion 2022 sind Ukrainerinnen in nahezu allen militärischen Rollen zu finden: Kampftruppen, Scharfschützinnen, Drohnen- und Artilleriebedienung, Sanitätsdienste, Führungsposten, Cyberabwehr und Geheimdienst. Ihre Beteiligung hat sich massiv ausgeweitet, und derzeit kämpfen 5000 von ihnen an der Front.

Tierärztin im Militärdienst

Auch Valentyna wollte zu Beginn des Krieges dem Militär beitreten. Doch ihr Alter, ihre physische Verfassung und ihr jüngstes Kind hielten sie davon ab. Bis die 51-Jährige von den Hexen in einem Facebook-Aufruf hörte. Die Arbeit passt zu ihr – dank des Schichtsystems kann sie ihren freiwilligen Dienst leisten und Mutter zugleich sein. Ihr Militärdienst habe sie verändert. Sie sei organisierter, konzentrierter und disziplinierter. Früher, erzählt sie, habe sie sich darüber Gedanken gemacht, welches Gemüse sie einwecken soll. Jetzt liest sie in ihrer Freizeit Bücher über Waffen. Ihre Einstellung ist klar: „Ich finde, jede Ukrainerin sollte lernen, wie man schießt und das auch den eigenen Kindern beibringen.“ Ihr eigentlicher Beruf ist Tierärztin, doch auch nach dem Krieg plant sie, Teil des Militärs zu bleiben: „Bei einem solch verrückten Nachbarland müssen wir vorbereitet bleiben.“

Die russischen Truppen haben furchtbare, grauenerregende Spuren im Land hinterlassen, insbesondere hier in Butscha. Kurz nach Kriegsbeginn am 24. Februar wurden im Frühjahr 2022 mehrere Kriegsverbrechen bekannt. Dass hier vor drei Jahren ein Massaker stattgefunden hat, ist heute auf den ersten Blick kaum zu erkennen: Es wurde viel Geld in den Wiederaufbau der Infrastruktur gesteckt. Die Straßen sind unbeschädigt, die Häuser intakt, eine Straßenbahn schlängelt sich durch den unscheinbaren Vorort. Die Leute laufen ganz normal über die Straße, es ist schwer vorstellbar, dass hier wie in einer Geisterstadt hunderte von Leichen auf der Straße lagen. Mehrere Gedenkstätten, wie die hinter der St. Andrews Kirche, erinnern an die Opfer. Kalypso fällt es schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen: „Ich habe viele tote Körper gesehen.“

Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 450 Menschen getötet und gefoltert. Russische Truppen löschten gesamte Familienverbände aus der Gemeinde Butscha aus. Noch immer gibt es Vermisste. Nach der Befreiung von Butscha zogen viele Männer der Stadt an die Front. Das wiederum führte dazu, dass sich eine weibliche Einheit der freiwilligen Territorialverteidigung bildete.

Die Umgebung rund um Kiew wird häufig von Russland angegriffen, meist mit iranischen Shahed-Drohnen, meist mitten in der Nacht. Diese sind eine spezielle Art von Kamikaze-Drohnen aus dem Iran, die von Russland für direkte Angriffe genutzt werden. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine zeichnet sich durch den bislang größten Einsatz von Drohnen in einem modernen Konflikt aus. Nun gilt es nicht nur die Ländergrenzen zu verteidigen; eine neue Gefechtslinie ist hinzugekommen: der Himmel.

Trotz der düsteren Realität, der sie jeden Tag begegnen, bleiben die Hexen von Butscha auch ein interessantes Thema für internationale Medien. Sie brechen alte Machtstrukturen im Militär auf und symbolisieren den bewaffneten Widerstand der Ukraine. Häufig bekommen sie Besuch von Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt. Doch ihre Besuche sind streng geregelt: Ein Pressesprecher führt den Kalender, und nur samstags zur Trainingseinheit ist ein Termin möglich. Diese Besuche wirken teils wie eine einstudierte Show, doch vor der Kamera sieht es anders aus. Die Hexen sind keine Showgirls, sondern eine hart kämpfende, entschlossene Einheit, die die Zukunft der Ukraine mitgestaltet.

„Wir beschützen Europa“

„Unser Präsident hat sich gut geschlagen“, sagt Kalypso zu dem Eklat zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem US-amerikanischen Amtskollegen Donald Trump vor einem Monat. Die US-Militärhilfe wurde zwischenzeitlich eingestellt, ein beunruhigendes Signal. Kalypsos Hoffnung liegt seitdem woanders: „Europa muss jetzt kämpfen. Denn wir beschützen Europa. Und wenn uns etwas passiert, wird Russland nicht stoppen.“

Während Selenskyj nach dem verheerenden russischen Raketenangriff im nordostukrainischen Sumy mit mindestens 35 Todesopfern die Entlassung des Militärgouverneurs des Gebiets eingeleitet hat, während die USA und Russland ohne die Ukraine über ein Friedensabkommen sprechen und während Deutschland verstärkt über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine debattiert, kämpfen die Hexen von Butscha mit dem, was sie haben. Nachts verfolgen sie jede Bewegung der feindlichen Flugkörper über eine App – und wenn der Moment gekommen ist, zieht eine 4-Personeneinheit unter dem Deckmantel der Dunkelheit los in den Wald. Die Drohnen selbst sind in der Dunkelheit mit bloßem Auge unmöglich zu erkennen, nur ihr bedrohliches Summen kann sie verraten. Dabei helfen Infrarot-Geräte: „Damit kann ich über einen Kilometer alles sehen“, erklärt Kalypso. Wie fühlt es sich an, eine Drohne zu treffen? „Amazing“, strahlt die 32-Jährige, „toll“.

Sobald eine Drohne getroffen wird, regnet es rote Funken vom Himmel wie ein Feuerwerk, bevor die Dunkelheit für den Rest der Nacht zurückkehrt. Doch am nächsten Morgen werden neue Drohnen kommen. Am nächsten Morgen wird der Himmel wieder brennen.

Diese Reportage wurde durch die Initiative „Women on the Ground: Reporting from Ukraine’s Unseen Frontlines“ der International Women’s Media Foundation in Partnerschaft mit der Howard G. Buffett Foundation unterstützt.

Weitere Themen

Weitere Artikel zu Hexen Ukraine Drohne Militär Russland