Ukrainischer Rollstuhlfechter in Esslingen Serhii Shavkun – starker Mann mit Familiensinn

Serhii Shavkun mit seiner Tochter Miroslava während der Sportlerehrung. Foto: /Herbert Rudel

Serhii Shavkun, Weltmeister und Esslinger Sportler des Jahres, fühlt sich in seiner neuen Heimat wohl und denkt viel an seine alte.

Irgendwann wischt Serhii Shavkun an seinem Handy herum und zeigt dann, wonach er gesucht hat. Es ist ein Video eines Hauses in der ukrainischen Stadt Mariupol am Asowschen Meer, wie er erklärt. Wobei der Begriff Haus übertrieben ist. Es sind nur noch Mauerreste zu sehen. In der Umgebung viel Zerstörung. Es ist das Haus von Shavkun und seiner Familie. Oder war ihr Haus. Jetzt sitzt er in seinem Rollstuhl in einem der Sozialräume der Halle im Sportpark Weil in Esslingen, erzählt davon, wie viel ihm sein Sport bedeutet und wie sehr ihn die Gedanken an die Heimat belasten. Shavkun ist Weltmeister im Rollstuhlfechten mit dem Florett und dem Degen in der Kategorie C, der Klasse mit dem schwersten Behinderungsgrad. Für seine Erfolge wurde er kürzlich als Sportler des Jahres 2024 der Stadt Esslingen ausgezeichnet. Vor eineinhalb Wochen legte er mit dem Gewinn der deutschen Meisterschaft mit beiden Waffen gleich mal nach.

 

„Ich habe mich sehr darüber gefreut, es bringt auch eine gewisse Verantwortung für die Zukunft“, sagt Shavkun über die Wahl in Esslingen – mit ein paar wenigen Brocken deutsch. Das Meiste übersetzt sein Trainer und Landsmann Ilja Kutsyi, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt.

Auf Wohnungssuche

Mit der Sprache tut sich Shavkun schwer, das wurmt ihn. Insgesamt fühlt er sich in Esslingen wohl und willkommen. Mit seiner Frau Yulyia und der vierjährigen Tochter Miroslava wohnt er auf dem Gelände des Sportparks. 14 Stufen muss er überwinden, es gibt keinen Aufzug. Seine starken Oberarme helfen, es mit Krücken und Mühe zu schaffen. Ideal ist das nicht und er wäre froh, eine andere, ebenerdige Wohnung zu finden. Aber beschweren will er sich nicht. Im Gegenteil: „Ich bin den Menschen hier bei der SV 1845 sehr, sehr dankbar, wie herzlich ich aufgenommen wurde“, sagt er und nennt speziell das Ehepaar Ira und Udo Ziegler sowie seine andere Trainerin Yulyia Aseeva, die ebenfalls aus der Ukraine stammt. Und nicht nur das: „Ich bin Deutschland dankbar für die Unterstützung der Ukraine“, betont er, fügt dann aber vorsichtig hinzu, dass er sich die Lieferung von mehr Luftabwehrsystemen wünscht, um die Bevölkerung zu schützen.

Sein Sport, erzählt der 52-Jährige, helfe ihm, den Kopf freizubekommen. Und erfolgreich zu sein, macht natürlich Spaß. Das Fechten führte ihn auch nach Esslingen. Dort ist die Flucht erst einmal zu Ende. Es ging von der Krim nach Mariupol, von dort nach Hersching in Bayern und von dort nach Esslingen – eine Hochburg im Rollstuhlfechten. Shavkun erzählt davon, wie er mit seiner Frau und seiner damals zweijährigen Tochter tagelang im Keller seines Hauses die Raketen hörte. Man merkt, dass es noch lange dauern wird, bis er das Erlebte verarbeitet hat. „Ich will, dass es meiner Familie gut geht“, nennt er als wichtigsten Antrieb in seinem Leben hier. Kein Krieg mehr. Miroslava geht mittlerweile in Esslingen in den Kindergarten, hat Freunde gefunden und lernt deutsch. „Viel schneller als ich“, erzählt Papa Serhii und lacht. Wie eng das Verhältnis zwischen Vater und Tochter ist, merkte man bei der Sportlerehrung, als Miroslava für das Gruppenfoto durch die Halle flitzte, in den Armen des Papas landete und dann auf seinem Schoß mitposierte.

Zwei Töchter in der Ukraine

Wenn Shavkun von seinen beiden anderen, erwachsenen Töchtern erzählt, die noch – beziehungsweise wieder – in der Ukraine leben, wird er wieder nachdenklich. Er telefoniert oft mit ihnen. „Das Wichtigste ist, zu hören, dass es ihnen gut geht“, sagt er. Shavkun vermisst seine Heimat, das merkt man ihm an. Aber die Möglichkeit einer Rückkehr sieht er auf absehbare Zeit nicht. „Ich war zufrieden mit meinem Leben, ich hatte ein Haus und auch mit der Behinderung ging es gut“, erzählt er, „aber jetzt gibt es keinen Ort, wo ich hin kann. Es gibt keinen Weg mehr zurück.“ Zumindest auf absehbare Zeit. Nachrichten schauen ist schwer. Aber er verfolgt die Ereignisse in seiner Heimat genau. „Wir hoffen alle, dass es zu einem Waffenstillstand kommt“, sagt Shavkun.

Immer noch übersetzt Kutsyi. Aber jetzt muss er sich selbst einschalten. „Er ist von Natur aus ein Kämpfer, so ein Kämpfer“, sagt er über Shavkun und schüttelt anerkennend den Kopf. Das war nach dem schweren Verkehrsunfall im Jahr 2006 so, seit der frühere Polizist einer Spezialeinheit gelähmt ist. „Dass er überhaupt im Rollstuhl sitzen kann, hat er seinem Willen zu verdanken, er ist ein starker Mann“, sagt der Coach. Und das ist immer noch so. Shavkun arbeitete sich zum weltweit besten Rollstuhlfechter seiner Kategorie empor. Er startet für die SV 1845, seine neue sportliche Heimat. International tritt er für das ukrainische Nationalteam an. Im September will er in Iksan in Südkorea seine Weltmeistertitel verteidigen. Die Wahl zum Esslinger Sportler des Jahres ist ihm Verpflichtung. Eine schöne Verpflichtung.

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