Ulrike Moser hat sich in ihrem überaus vielschichtigen Buch „Schwindsucht“ mit den verschiedenen Aspekten der Tuberkulose auseinandergesetzt.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Der Untertitel führt ein bisschen in die Irre: „Schwindsucht“ von Ulrike Moser sei eine „andere deutsche Gesellschaftsgeschichte“, denn tatsächlich ist die Krankheit in dem Zusammenhang, in den die Autorin sie in ihrem Buch stellt, eine zumindest europäische Angelegenheit. Keine französische Bohème ist ohne Tuberkulose, Auszehrung, Phthise, Weiße Pest denkbar. Der letzte Teil des Buches allerdings ist einem rein deutschen Thema gewidmet: den Menschenversuchen, die die Nazis aus vorgeblich medizinischen Gründen an ihren Opfern durchführten.

 

Großer Erkenntnisgewinn

Kulturgeschichte, Medizingeschichte und natürlich Zeitgeschichte – es sind viele Aspekte, die Ulrike Moser auf mehr als 260 Seiten beleuchtet. Auch wenn man mit dem Begriff Schwindsucht etwas anfangen kann, wenn einem die Krankheitsgeschichten wie etwa die von Frédéric Chopin oder Novalis andeutungsweise bekannt sind, so ist es doch sehr erhellend, wie die Autorin das Bild der Krankheit im 19. Jahrhundert erläutert: als eine absurde Überhöhung des Dahinsiechens, ja als erstrebenswerter Zustand des schwindenden Daseins. Andere Seuchen wie Pest, Lepra oder Syphilis, die ihre Opfer entstellen und zu Aussätzigen machen, kamen nie in den Genuss einer solchen Reputation. So stellt Moser die russische Künstlerin Marie Bashkirtseff vor, die mit ihrem „Todeskandidatentum“ kokettierte, mit „dem müden Aussehen, welches mir sehr gut steht“. Am Ende starb sie unter Qualen und ohne jede Verklärung.

Dabei geben die Methoden, mit denen die Ärzte der Krankheit Herr werden wollten, zur Überhöhung keinen Anlass. Wahre Rosskuren verordneten sie ihren Patienten, oft basierend auf mittelalterlichen, wo nicht antiken Annahmen. Das war auch in den Sanatorien kaum anders, von denen das Waldsanatorium im zauberbergigen Davos mit seinem Patienten Hans Castorp den Sprung in die Weltliteratur schaffte.

Menschenfeindlicher Begriff

Noch schlimmer sah es freilich in den Arbeitervierteln mit ihren Hinterhöfen und überfüllten Kellerwohnungen aus, wo die Menschen massenhaft an Tb zugrunde gingen. Vor allem junge Menschen raffte die Seuche dahin, gegen die es bis zur Entdeckung des Penicillins keine wirksame Therapie gab. Und um Heilung ging es auch Nazi-Ärzten nicht, die mit ihren Menschenversuchen zu den schlimmsten Verbrechern des Dritten Reiches gehören. Allerdings zeigt Ulrike Moser, dass der mörderische Wahn keineswegs erst 1933 einsetzte. Die verbale Verrohung, die diese Entwicklung erst möglich machte, reicht weit zurück in die Weimarer Republik und ins Kaiserreich. Eine Mahnung, an die man bei jeder brachial geführten Debatte der Gegenwart stets denken sollte.

Ulrike Moser: Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte, Matthes & Seitz Berlin, 264 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, 26 Euro