Die italienische Abgeordnetenkammer hat den ersten Teil einer umstrittenen Justizreform verabschiedet. Unter anderem wird der Straftatbestand des Amtsmissbrauchs abgeschafft. Die Opposition protestiert.
„Ab heute ist Italien ein ungerechteres Land“, betonte der frühere Premier und heutige Chef der Fünf-Sterne-Protestbewegung Giuseppe Conte im Parlament, nachdem die Reform mit 199 gegen 102 Stimmen verabschiedet worden ist. Was dies konkret bedeutet, erklärte in der Abgeordnetenkammer Contes Parteifreund, der ehemalige nationale Anti-Mafia-Staatsanwalt Federico Cafiero De Raho: „Wenn ein Bürger eine Regelverletzung bei einer öffentlichen Ausschreibung, das Umgehen einer Warteliste in einem Spital oder eine fragwürdige Baubewilligung für seinen Nachbar anzeigen will, dann wird er vom Strafrecht nicht mehr unterstützt.“ Entsetzt über die Reform zeigten sich auch die Parlamentarier des sozialdemokratischen PD und der linksgrünen Allianz.
Tatbestand des Amtsmissbrauchs führte zu Justiz-Leerlauf
Vertreter der Rechtsregierung wiesen die Kritik zurück. Der parteilose Justizminister und ehemalige Staatsanwalt Carlo Nordio betonte, dass strafrechtlich relevantes Fehlverhalten von Amtsträgern weiter geahndet werden könne – durch die Anwendung anderer Straftatbestände und insbesondere der Anti-Korruptionsgesetzgebung, die in Italien zur schärfsten Europas zählt. „Der Kampf gegen die Korruption wird durch die Reform nicht beeinträchtigt“, sagte Nordio im Parlament. Durch die Abschaffung des Amtsmissbrauchs solle vielmehr die Effizienz der Verwaltung verbessert werden.
Auch Zustimmung für Abschaffung des Amtsmissbrauchs
In der Praxis hat der Tatbestand des Amtsmissbrauchs in Italien in der Tat zu einem Justiz-Leerlauf geführt: Jedes Jahr wurden Dutzende, manchmal hunderte Bürgermeister, Regionalräte und andere Amtsträger angeklagt – in über 90 Prozent der Fälle endeten die Verfahren nach vielen Jahren mit einem Freispruch. In den Rathäusern des Landes führte dies zu einer „paura della firma“, zur Angst, überhaupt noch irgendwelche Papiere zu unterzeichnen. Die Folge davon ist, dass jedes noch so kleine Bauprojekt, jede Ausbesserung des Brunnens auf dem Marktplatz, jede Ladesäule für Elektroautos monate- oder sogar jahrelang blockiert bleiben. Nicht nur rechte, sondern auch linke Bürgermeister hatten Regierungschefin Meloni deshalb ermuntert, die Abschaffung des Amtsmissbrauchs voranzutreiben. Ob sich die Reform tatsächlich als „Freipass für Delinquenten mit weißem Kragen“ erweisen wird, wie die Opposition befürchtet, wird sich wohl erst in der neuen Gerichtspraxis herausstellen. Dass sie offiziell dem vor einem Jahr verstorbenen früheren Skandal-Premier Silvio Berlusconi gewidmet werden soll, stimmt allerdings etwas skeptisch.
Mehr Respekt für Unschuldsvermutung
Mehr Respekt für Unschuldsvermutung
Dasselbe gilt für andere umstrittene Punkte der Reform, insbesondere für die neuen Einschränkungen bei der Publikation von abgehörten Telefongesprächen und Ermittlungsakten durch Justizbehörden. So dürfen in Zukunft Mitschnitte von Gesprächen eines Verdächtigen, die er mit einer Person führte, die nichts mit den Ermittlungen zu tun hat, nicht mehr veröffentlicht werden. Dass von den Behörden Abhörprotokolle an die Medien durchgestochen werden, die fast zwangsläufig zu Vorverurteilungen in der Öffentlichkeit führen, kommt in Italien fast täglich vor. Nordio will mit den Einschränkungen der Unschuldsvermutung mehr Respekt verschaffen. Die Opposition dagegen spricht von einem „Maulkorb“: Die Rechtsregierung wolle verhindern, dass die Medien über die Machenschaften der korrupten Politikerkaste berichten, kritisierte Conte.
Ein weiterer Punkt der Reform, der weniger umstritten ist, betrifft die Anordnung von Untersuchungshaft. Bisher konnte ein Untersuchungsrichter in Absprache mit dem Staatsanwalt diese eigenhändig verfügen – ohne dem Beschuldigten zuvor die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben zu haben. In Zukunft muss der Untersuchungshaft eine Anhörung des Beschuldigen vorangehen; entschieden wird die Maßnahme dann von einem Richtergremium. Dieser Reformpunkt scheint überfällig – wobei Kritiker zu Recht fragen, wo im chronisch unterbesetzten italienischen Justizapparat das Personal für den Mehraufwand gefunden werden soll.