Europa baut ein weltweit einzigartiges System von Umweltsatelliten auf. Sie helfen nicht nur, den Klimawandel besser zu verstehen, sondern überwachen auch Infrastrukturprojekte und Feinstaubwerte.

Frascati - Wer den Start des Umweltsatelliten Sentinel 1B vom Weltraumbahnhof Kourou verfolgt, bekommt das Gefühl, dass es schwieriger ist, unbemannte Satelliten ins All zu schießen als Astronauten zur ISS: wieder und wieder wird der Start verschoben, mal passt das Wetter nicht, mal gibt es technische Probleme. Aber dann, als Sentinel 1B endlich in seiner Umlaufbahn angekommen ist, kann ihn nichts mehr bremsen. Zwei Tage nach dem Start schalten die ESA-Verantwortlichen das Radar an – und schon zwei Stunden später schickt Sentinel 1B das erste Bild: eine Revolution.

 

Beim Schwestersatelliten Sentinel 1A habe man noch Wochen auf das erste Bild warten müssen, sagt Robert Meisner, Fernerkundungsexperte und Kommunikationsverantwortlicher der Erdbeobachtungsprogramme der ESA. Im ESA-Erdbeobachtungszentrum im italienischen Frascati sitzt er über diesem ersten Bild, das man sich nicht wie ein Foto vorstellen darf. Es ist ein schwarz-weißes Radarbild, das einiger Bearbeitung bedarf, bevor Laien etwas darauf erkennen.

Auch wenn sie deutlich kleiner sind als ihr Vorgänger „Envisat“ – ein Brocken von acht Tonnen mit den Maßen eines Lkw und damals Europas einziger Umweltsatellit, der 2014 plötzlich in den Weiten des Alls verschwand –, sind die Sentinel-Satelliten auch nicht ganz zart: 2,3 Tonnen wiegt 1B, der mit einem 12 Meter langen Radar und zwei zehn Meter langen Solarflügeln ausgestattet ist. Die beiden Satelliten umkreisen die Erde in 700 Kilometern Höhe. Zusammen sollen sie pro Tag mehr als zehn Terrabyte Daten liefern.

Wolken und Regen sind kein Hindernis

Die Radarbilder haben den Haken, dass man sie nicht ganz so einfach interpretieren kann wie Fotos. Dafür ist Radar unabhängig vom Licht – es funktioniert auch bei Dunkelheit. Auch Wolken oder Regen sind kein Hindernis. Zudem erfassen die Sentinel-Satelliten sehr genau Höhenunterschiede. So konnte sowohl die Absenkung von Venedig als auch die der Berliner U-Bahn aus dem All recht exakt und frühzeitig erkannt werden. Auch die Folgen des Erdbebens in Chile haben die Satelliten vermessen. Und dass sich die Erde in Folge der Fukushima-Katastrophe an manchen Stellen um bis zu zwei Meter in die Höhe gehoben hat, weiß man ebenfalls dank Satellitendaten sehr genau.

Meisner bearbeitet die Radardaten und setzt sie zu einem großen Bild zusammen: Das norwegische Inselarchipel Spitzbergen im Arktischen Ozean wird sichtbar, deutlich zu erkennen ist ein Gletscher darauf. Nun ist aus dem grauen Radarbild ein ansehnliches Bild geworden, mit dem die Esa im Internet für ihr Programm werben kann. In der Tat ist ein bisschen Marketing wohl nicht schlecht: schließlich kostet das Copernicus-Programm zwischen 2014 und 2020 rund 4,3 Milliarden Euro. Im Rahmen des Programms starten sechs Sentinel-Missionen als Gemeinschaftsprojekt der ESA und der EU-Kommission.

Das Versprechen im Gegenzug: Informationen, die die Welt retten. Das ist durchaus Ernst gemeint. Der Start der Erdbeobachtung aus dem All in großem Stil ist unter anderem eine Folge des gestiegenen Umweltbewusstseins der 70er Jahre. Heute bewahrheiten oder berichtigen Satellitendaten zum Beispiel die Vorhersagen der Klimaforscher. Nicht immer liegen sie richtig, wie Messungen in jüngster Zeit ergaben. So schmilzt das Meereis in der Arktis viel schneller als gedacht. Die Hoffnung: mit diesen Daten, die sich auf Karten darstellen lassen, könne das Umweltbewusstsein der Menschen besser erreicht werden als mit abstrakten Computermodellen.

Gutes Ozon, schlechtes Ozon

Als eines der nächsten Ziele haben sich die Fernerkundler die Konzentration von Gasen wie Ozon vorgenommen. „Mit modernen Methoden können wir das ‚böse’ Ozon auf dem Boden vom ‚guten’ der Atmosphäre unterscheiden“, sagt Meisner. So lässt sich nicht nur zeigen, wie effektiv das Ozon unsere Atmosphäre schützt, sondern auch in welchen Städten Menschen besonders von belasteter Luft umgeben sind. Auch Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Feinstaub wollen die Beobachter in hoher Auflösung dingfest machen. Noch ist das nur auf Stadt-Ebene möglich, mit dem Start von Sentinel 5P im Herbst dieses Jahres soll die Auflösung aber noch deutlich verbessert werden, so dass Vorhersagen für einzelne Straßenzüge getroffen werden können.

Langfristige Beobachtungen helfen auch bei der Erkennung von Trends in der Klimaveränderung. So können die Satelliten auch die Bodenfeuchtigkeit sowie die dortigen Temperaturen sehr genau erfassen. Auch diese Werte verändern sich mit dem Klimawandel. Die beiden Sentinel-1-Satelliten umkreisen die Erde jeweils in etwas weniger als zwei Stunden. Da sich unter ihnen die Erde ebenfalls dreht, sind die Bahnen zueinander versetzt, so dass stets nach zwölf Tagen das gleiche Gebiet erneut überflogen wird. Die beiden Satelliten sind baugleich und liefern die gleichen Daten – nur zeitversetzt: „So kriege ich alle sechs Tage die gesamte Erde abgebildet“, sagt Meisner.

Wichtig ist das auch für die Schiffahrt, da die Satelliten die Bewegungen von Eisbergen beobachten. In Kombination mit Daten von Wettersatelliten werden die Bedingungen für die Schiffahrt ebenso wie für die Luftfahrt berechnet. Eine noch größere Bedeutung für das Leben auf der Erde haben Vorhersagen der Getreideernte. Viele Felder sind heute so groß, dass man sie kaum vom Boden aus überblicken kann. Manche Regionen sind auch schwer zugänglich. Weil Satelliten das gleiche Gebiet immer wieder überfliegen, erkennen sie kleinste Veränderungen: Sind die Pflanzen nicht gesund? Ist der Boden zu trocken? In Kombination mit Daten von Wettersatelliten können so genaue Ernteprognosen erstellt und bei drohenden Ausfällen frühzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Baustellenüberwachung aus dem All

Nicht zuletzt sind die Daten für die Stadtplanung interessant. Ist eine Straße fertig asphaltiert? Dank einer Auflösung von einem Meter pro Pixel kann man das vom Orbit aus beurteilen. Was zunächst absurd klingt – eine Straße kann man schließlich auch mit dem Auto erreichen – hat ernste Hintergründe: die EU fördert Straßenbau in der Ukraine, die Weltbank hat Infrastrukturprojekte auf der ganzen Welt. Da ist es einfacher und kostengünstiger, via Satellit zu schauen, ob diese so voranschreiten wie vereinbart, als einen Menschen auf Weltreise zu schicken. Schließlich können Satellitendaten auch auf Mineralienvorkommen hinweisen.

Das alles ist einleuchtend. Nur wieso braucht Europa überhaupt ein eigenes, derart umfangreiches Umweltsatellitenprogramm? Kann man nicht auf die Daten anderer Länder zurückgreifen? Die Antwort von Robert Meisner ist denkbar einfach: weil es einzigartig ist. „Es ist das umfangreichste Erdbeobachtungsprogramm der Welt.“ Lediglich der US-amerikanische Landsat-Satellit sei vergleichbar mit Sentinel 2, „aber das ist nur einer.“ Auch die Menge an Daten, die frei für alle zur Verfügung gestellt werden, ist weltweit einzigartig. „Das ist auch ein Input für die Wirtschaft und die Forschung“, sagt Meisner.

Bisherige und geplante Copernicus-Missionen

Sentinel 1 Seine Radarinstrumente liefern hochaufgelöste Bilder von Land- und Ozeanoberflächen. Der erste Satellit ist seit April 2014 im Orbit, der zweite seit April 2016.

Sentinel 2
verfügt über ein optisches Instrument mit 13 Spektralkanälen.Ziel sind hochaufgelöste Bilder der Land- und Ozeanoberflächen. Der erste Satellit ist im Juni 2015 gestartet, Sentinel 2B soll im April 2017 folgen.

Sentinel 3 hat unter anderem ein optisches Instrument mit 21 Spektralkanälen und mittlerer Auflösung sowie ein Radiometer mit neun Spektralkanälen, die auch den Infrarotbereich abdecken. Der erste Satellit ist im Februar 2016 gestartet, der zweite soll Ende 2017 starten.

Sentinel 4 verfügt über Spektrometer im ultravioletten, sichtbaren und nahen Infrarotbereich. Ziel ist die Überwachung von Spurengasen in der Atmosphäre. Die Satelliten sollen 2021 starten.

Sentinel 5 trägt Spektrometer im ultravioletten, sichtbaren und nah- und kurzwelligen Infrarotbereich. Ziel ist Überwachung von Spurengasen und Aerosolen in der Atmosphäre. Die Satelliten sollen 2020 starten.

Sentinel 5 Precursor ist ein eigenständiger Satellit, der die Überwachung von Spurengasen mit ähnlichen Instrumenten schon vor dem Start von Sentinel 5 ermöglicht. Der Start ist für Ende 2016 geplant.

Sentinel 6 Das Satellitenaltimeter im polaren Orbit ermöglicht die „tidenfreie“ Messung des Meeresspiegels. Der Start ist für Ende 2020 geplant.