Das Kunstmuseum Stuttgart beschäftigt sich mit der Frage, wie Künstler den Zufall nutzen. Allerdings dreht sich die Schau „(Un)erwartet“ weniger um inhaltliche Fragen als vor allem um Techniken und Methoden.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Beim ersten Mal ruft Christian Jankowski bei Sibilla an. Sie arbeitet als Wahrsagerin beim italienischen Fernsehen. Als Jankowski von ihr wissen will, ob sein nächstes Kunstwerk ihm Glück bringen werde, verraten Sibillas Karten: Ja, es erwarte ihn eine „große Befriedigung“, auch aus ökonomischer Sicht. Alles Humbug, könnte man meinen, aber auch der Experte des Studios für Parapsychologie sagt dem Künstler Erfolg voraus. Er stehe vor einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben. Zweimal die Karten befragt, eine eindeutige Prognose. Das kann alles kein Zufall sein.

 

Bloß, was ist überhaupt Zufall? Als Peter Lacroix 1970 sechs verschiedenfarbige Quadrate unterschiedlich auf einer Fläche arrangierte, mochte er sich zufällig für eine bestimmte Bildmöglichkeit entscheiden. Sicher ist, dass er die sechs Quadrate in 46 656 Varianten hätte arrangieren können. „(Un)erwartet – Die Kunst des Zufalls“ nennt sich die neue Ausstellung des Kunstmuseums Stuttgart, die versucht aufzuzeigen, wie Künstlerinnen, aber vor allem Künstler den Zufall in ihre künstlerische Produktion integrieren. Marcel Duchamp zum Beispiel hat den Kurvenverlauf von Fäden aufgegriffen und daraus geschwungene Holzlineale erstellt: seine „Kunststopf-Normalmaße“. Ganz zufrieden soll er mit den zufälligen Formen aber nicht gewesen sein, weshalb er sie angeblich manipulierte – und damit den Zufall überlistete.

Auch Musiker und Literaten interessiert der Zufall

Im zwanzigsten Jahrhundert spielt der Zufall eine wichtige Rolle nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in Literatur und Musik. Für Max Ernst war die Collage „die systematische Ausbeutung des Zufalls“. Aber wenn man in der Ausstellung nun die schöne Collage „Für ein Fest gemacht“ (1936) von Hannah Höch sieht, können einem schon Zweifel an Ernsts These kommen. Höch, die an einen Frauenkörper einen freundlich lachenden, aber gänzlich überproportional großen Mund klebte und den Fuß mit einem Auge verdeckte, hat nichts dem Zufall überlassen. Jedes Detail wurde im Gegenteil sehr sorgfältig komponiert.

Ein beiläufiges, kleines Lottokugelspiel aus dem Jahr 1970 weist den Weg durch die Ausstellung: Bei vielen Arbeiten, die größtenteils aus den sechziger und siebziger Jahren stammen, geht es um das Durchdeklinieren einzelner Möglichkeiten unter vielen, mitunter schier endlosen Varianten. Immer wieder werden etwa Vierecke auf der Fläche angeordnet. So hat François Morellet 1958 rote und grüne Quadrate zufällig auf der Fläche verteilt, immerhin stolze 40 000 an der Zahl.

Ein Saal ist Herman de Vries gewidmet, der Holzklötze – zufällig – zu einem Berg auftürmte oder kleine, rechteckige Papiere auf schwarzen Karton rieseln ließ und fixierte. K. O. Götz wiederum hat 1962 eine Leinwand mit winzigen, verschiedenfarbigen Quadraten überzogen, um eine statistische Verteilung zu simulieren.

Das Unkalkulierbare bedeutet Machtlosigkeit

Der Zufall – an sich ist das ein spannendes Thema. Schließlich sagt der Umgang mit dem Zufälligen einiges über unsere Gesellschaft aus. Bereitwillig werden meist kausale Zusammenhänge unterstellt, weil das Unkalkulierbare letztlich Machtlosigkeit bedeuten würde. Eine kleine Arbeit, „schäuffelens lotterie romane“ (1964/75) gibt in der Ausstellung eine Ahnung davon, dass der Zufall durchaus auch mit einer sozialen Utopie in Verbindung gebracht werden kann: Konrad Balder Schäuffelen hat in einem Kistchen winzige Textrollen versammelt. Nach veränderbaren Regeln könnten diese „Satzakte“ zusammengesetzt werden, „als Experiment eines gesellschaftlichen Zusammenlebens“.

Auch die Bilderpyramide von Rune Mields aus dem Jahr 1982 ist nicht nur schnödes methodisches Experiment, sondern wartet mit Hintersinn auf: Ihr „Turmbau zu Babel/Apokalypse“ zeigt ein wildes Buchstabengewirr. Aber die Ausstellung interessiert sich vor allem für Techniken und künstlerische Methoden – und weniger für die inhaltliche Dimension des Themas Zufall. Deshalb wurden zur Belehrung des Publikums „Pädagogikwürfel“ in den Sälen verteilt, die – schwer lesbar – Definitionen liefern zu Frottage und Grattage, zu Cadavre Exquis, Décalcomanie und Brown’scher Molekularbewegung. Diesen oberlehrerhaften Gestus wird nicht jeder mögen. Aber die Kuratorin Eva-Marina Froitzheim hat auch versucht, den Rundgang durch die diversen Zufallsexperimente vor allem konkreter Künstler aufzulockern, zum Beispiel mit Guillaume Bijls „Stuttgarter Souvenir Shop“. Für den trug der Belgier 1996 das zusammen, was er in Stuttgarter Touristenläden fand: Schneekugeln, Schnapsgläschen und Spätzlebrett, Bierglas und Wandteller. Eine traurige Fundgrube, die ein altbackenes, spießiges Image der Stadt vermittelt.

Auch die Besucher sind gefragt

Beim Thema Zufall und Aleatorik darf freilich auch der Komponist John Cage nicht fehlen, zu dem es Hörbeispiele gibt wie etwa sein legendäres Klavierstück „Music Of Changes“ aus dem Jahr 1951. Es entstand, indem Münzen auf eine Notentabelle geworfen wurden. Vereinzelte Arbeiten in der Ausstellung sind auch interaktiv. So lädt Johannes Auer ein, in einen Computer Wörter einzutippen, die in einen stochastischen, also zufallsbasierten Text eingebaut werden, wobei Sätze entstehen wie „Ein Bäcker ist gut“ und „Nicht jeder Knecht ist fern“.

An einer Zufallsmaschine können die Besucher zudem entscheiden, ob eine kleine Tonfolge von Marimba oder Bass gespielt, in Dur oder in Moll transponiert oder eine Note verändert werden soll. Gesteuerter Zufall.

Aber trotz einzelner Lichtblicke und mancher interessanten Arbeiten von kaum bekannten Künstlern ist das ausgestellte Material über weite Strecken eher spröde. Die Arbeiten mögen radikal sein und in ihrer Zeit den Kunstbegriff erweitert haben, in der Summe wirken die rein methodischen Annäherungen an den Zufall monoton, und ist es wenig inspirierend, wenn zwanzig Linien zufällig auf der Leinwand verteilt wurden.

Am Ende der Ausstellung stellt Ben Vautier die entscheidende Frage: „Zufall oder Kunst?“ – und liefert auf einer weiteren Texttafel die Antwort: „Zufall existiert nicht.“ Zumindest nicht bei Timm Ulrichs, der immer für einen klugen Spaß zu haben ist. Mit seinem „Glückswürfel“ (1965) gewinnt man, aller Aleatorik zum Trotz, verlässlich bei jedem Wurf. Denn auf allen Seiten steht eine Sechs.