Trotz des klaren Ausgangs beim Referendum kann es nicht gelingen, wenn die Kurden ihre Unabhängigkeit brachial durchdrücken wollen. Es könnte Krieg bedeuten. Daher sollte die Bundesregierung ihren Einfluss geltend machen, meint Matthias Schiermeyer.
Stuttgart - Drei Jahre ist es her, dass die Bundesrepublik erstmals in ihrer Geschichte Waffen in ein Krisengebiet geschickt hat. Seither wurden Zigtausende Gewehre und Raketen sowie 2500 Tonnen an Material für den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ins kurdische Nordirak geflogen. Mit ihren Lobeshymnen für den Mut der Peschmerga trug Verteidigungsministerin von der Leyen zu einer überhöhten Darstellung der Krieger bei. Mehr als 14 000 Angehörige der kurdischen Armee wurden schon von der Bundeswehr ausgebildet – was nicht verhinderte, dass annähernd 2000 von ihnen im Widerstand gegen die Dschihadisten gefallen sind. Und heute? Bald ist der IS besiegt, die Peschmerga haben ihre Pflicht als Bodentruppe des Westens erfüllt, und die Begeisterung für die Kurden ist erlahmt.
Frust über den Meinungswandel in Berlin
Wiederholte Kritik übt Außenminister Sigmar Gabriel am Unabhängigkeitsreferendum der Kurden, das erwartungsgemäß ein starkes Votum für die völlige Selbstbestimmung des Autonomiegebiets gebracht hat. Die Verbitterung der Kurden über diesen Meinungswandel in Berlin ist nachvollziehbar. Dankbarkeit ist allerdings keine politische Kategorie, wenn es darum geht, einen neuen Waffengang in der Region zu verhindern. Und der droht in der Tat, wenn die Türkei Soldaten in den Nordirak schicken sollte, um die abtrünnigen Kurden zu sanktionieren. An Erdogans Ernsthaftigkeit, einen „ethnischen Krieg“ zu führen, sollte niemand zweifeln. Zu groß ist seine Angst vor einem Nachahmungseffekt im eigenen Land. Wenn aber erst türkische Panzer rollen, würden auch die Zentralregierung in Bagdad und der Iran militärisch in die Offensive gehen. Eine unbeherrschbare Eskalation wäre die Folge.
Vieles spricht gegen einen Alleingang
Abspaltungstendenzen gibt es vielerorts – auch mitten in Europa, wie die spanischen Basken beweisen. Doch nie war die Separatismuswelle gefährlicher als heute, da die Uneinigkeit des Westens einerseits sowie autokratische Strukturen in gewichtigen Staaten andererseits leicht katastrophale Kettenreaktionen ermöglichen. Speziell im Hinblick auf die Kurden spricht fast alles gegen einen Alleingang: Innenpolitisch sind die Parteien völlig uneins, außenpolitisch ist das irakische Kurdistan praktisch isoliert, und wirtschaftlich hängt es ausgerechnet von den Türken ab. Militärisch hätten die Peschmerga dem Angriff einer Armee nichts entgegenzusetzen außer ihrem Mut.
Dennoch verdienen die Befürworter der Unabhängigkeit Verständnis. Die Kurden haben eine Jahrhunderte währende Geschichte der Verfolgung hinter sich. Seit der künstlichen Grenzziehung durch die Siegermächte zum Ende des Ersten Weltkriegs sind sie als unterdrückte Minderheiten auf mehrere Staaten verteilt und mussten selbst Versuche des Völkermords wie die Giftgasangriffe durch Saddam Hussein über sich ergehen lassen. Kurdistan ist ein Spielball seiner Nachbarn. Darf man den Kurden nun Pluralismus und Parlamentarismus ausgerechnet in einer Region verwehren, in der Demokratie sonst kaum lebensfähig scheint?
Kurdenführer Barsani muss sich gedulden
Die Selbstbestimmung brachial durchzudrücken, kann dennoch nicht gelingen. Eine Neuordnung der Grenzen erscheint angesichts der gegensätzlichen Interessen derzeit völlig undenkbar. Kurdenführer Massud Barsani muss sich gedulden. Doch eine längerfristige Perspektive auf weitergehende Autonomie in einem föderal organisierten Irak haben die Kurden verdient. Mit einer Verpflichtung Barsanis auf realistische Ziele sollte die Bundesregierung ihren mäßigenden Einfluss auf Erbil geltend machen, desgleichen ihr Ansehen in Bagdad und Teheran. Speziell die Kurden müssen erkennen, dass sie die Zusammenarbeit mit Deutschland aufs Spiel setzen, wenn sie jegliche Kooperationsbereitschaft vermissen lassen.