Ein Reporter gibt sich bei Alternativmedizinern als Patient aus, um ihre Praktiken kennenzulernen. Obwohl er einen Tumor hat, der sich mit einer Chemotherapie erfahrungsgemäß gut behandeln lässt, raten ihm die Heiler davon ab.
Stuttgart - Ich erzähle immer dieselbe Geschichte: Ich heiße Niko Scholze, ich bin 33 Jahre alt, lebe in Berlin und habe Krebs. Ein Hodgkin-Lymphom, um genau zu sein, also einen Tumor, der die Lymphknoten befällt. Vor einem Jahr habe ich eine Chemotherapie gemacht, der Krebs verschwand, doch nun ist er zurückgekehrt. Mein Arzt dringt auf eine neue Chemo. Das ist zum Glück nur ausgedacht. An Krebs leide ich nur, um Deutschlands Alternativmediziner auf die Probe zu stellen. Was raten Geistheiler und Neugermanische Doktoren, Schamanen und Heilpraktiker einem, der mit einem aggressiven, aber von der Schulmedizin gut behandelbaren Tumor zu ihnen kommt?
Um das herauszufinden, reise ich zusammen mit Claudia Ruby, die sich als meine Studienfreundin ausgibt, quer durch die Republik. Die Journalistin hat für ihren Dokumentarfilm „Krebs – Geschäft mit der Angst“ die Besuche organisiert, auch einen Diagnosebrief, den wir immer vorlegen.
Die Reise führt uns nach Öhringen nördlich von Stuttgart, wo die Heilpraktikerin Ursula Stoll ihre Patienten nach der Methode der „Germanischen Neuen Medizin“ behandelt. Begründet wurde die Lehre von einem gewissen Ryke Geerd Hamer Anfang der achtziger Jahre als Reaktion auf die „jüdische“ Schulmedizin. Mehrere von Hamers Patienten starben. 2007 floh er vor den Behörden – nach ihm wird international gefahndet – nach Norwegen, wo er bis heute als Rektor einer Scheinuniversität auftritt und Bücher verlegt.
„Was ist Krebs?“, fragt die Naturheilerin
Glaubenskern der Germanischen Neuen Medizin: Krankheiten sind Ausdruck eines inneren Konflikts. Ein Hirsch, der aus seinem Revier verdrängt wird, erhöht den Blutdurchfluss zum Herzen, um Kraft zu haben und sein Gebiet zurückzuerobern. Dem Mensch ergeht es ähnlich, wenn er eine Erniedrigung erlebt. Doch er kann seine aufgestaute Energie nicht, wie das Tier, im Kampf freisetzen. Die sinnvolle Überschussreaktion führt zum Herzinfarkt.
Die meisten Heiler, die sich der Germanischen Neuen Medizin verschrieben haben, halten sich bedeckt und werben nur in einschlägigen Foren, Ursula Stoll jedoch offen auf ihrer Website praxis-neue-medizin.de. Stoll praktiziert in einem unscheinbaren Einfamilienhaus, sie trägt ein weißes Hemd und eine Hornbrille, die braunen Haare zum Zopf zusammengesteckt, eine akkurate Gouvernante mit strengem Blick.
Ich fange an, von meiner Krankheit zu erzählen. Stoll unterbricht mich schnell: „Was ist Krebs?“, fragt sie. Man müsse sich von dem Begriff verabschieden. Auch Metastasen gebe es nicht. Den ärztlichen Befund überfliegt sie beiläufig. Ich habe zunächst einmal nur eine Schwellung der Lymphknoten am Hals. Die Ursache: eine Selbstabwertung, und zwar beruflicher Art. Ich erzähle ihr von einem Vortrag, der meinem Chef nicht gefallen hat. Ja, das könne der Grund für die Krebserkrankung sein. Mein Körper versuche, sich selbst zu heilen, doch die erste Chemotherapie habe den Vorgang unterbrochen.
Selbst Schuld, urteilen die Richter oft
Ihr Rat, um den Krebs zu besiegen: ich soll wieder zu meinen Eltern ziehen, das Leben als Single überfordere mich, Berlin sei ohnehin eine furchtbare Stadt. Und ich soll lernen, mich selbst zu lieben. Was ist mit der Chemotherapie? „Ich persönlich würde das nicht machen“, sagt sie, „und für meine Kinder und meine Eltern würde ich genauso entscheiden.“ Eine windelweiche Formulierung, die mir immer wieder begegnet ist – mit der sich die Heiler wohl aus der rechtlichen Verantwortung stehlen wollen, denn Niko Scholze wäre an diesem Rat gestorben. Hodgkin ist heilbar, eine Paradeerkrankung für die Schulmedizin, eine Chemotherapie ist die einzig sinnvolle Option. Macht man sie nicht, stirbt man.
Maia Steinert, Fachanwältin für Medizinrecht in Köln, hat oft die Hinterbliebenen von Kranken vertreten, die sich in ihrer Not an Alternativmediziner gewandt hatten. Wer einem jungen Menschen mit Heilungschancen von mehr als 50 Prozent von einer rettenden Therapie abrät, mache sich der arglistigen Täuschung und Körperverletzung strafbar, sagt Steinert. Doch es sei sehr schwer, vor Gericht eine Strafe durchzusetzen. In der Regel urteilten die Richter, jemand sei selbst schuld, wenn er sich sehenden Auges von einer etablierten Therapie abwende.
Wir haben Ursula Stoll vor der Veröffentlichung dieses Textes kontaktiert und sie gefragt, wie sie ihr Vorgehen rechtfertigt. Per E-Mail wiederholt sie ihre Standpunkte. Eine Chemotherapie schade mehr, als sie nütze, Krankheit sei eine „Selbstregulation“ – und Krebs gebe es nicht.
Unbehelligt darf Ursula Stoll ihr Unheil treiben – als Heilpraktikerin. „Wir brauchen diesen Berufsstand nicht“, sagt Jutta Hübner, Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Prävention und Integrative Medizin in der Onkologie” der Deutschen Krebsgesellschaft. Doch solange die Schulmedizin nicht genügend Ansprechpartner anbietet, die sich Zeit für eine ausführliche Beratung und eine empathische Beziehung zum Patienten nehmen, werden charismatische Heiler wohl ihr Publikum finden.
Das Spiel mit den Hoffnungen der Patienten
Lothar Hollerbach, ein weißhaariger Arzt, der eine Alternativpraxis in einer Heidelberger Stadtvilla betreibt, sagt gleich, dass er nicht viel von einer Chemotherapie halte. Jede Krise sei eine Lektion, vielleicht sei diese Lektion aber für das nächste Leben bestimmt. Also für die Zeit nach unserer Wiedergeburt. Er empfiehlt mir zur Gesundung die Vorträge von Rudolf Steiner, ein Gedicht von Hermann Hesse und das Buch eines brasilianischen Mediums.
Wie viele Patienten hat er erfolgreich behandelt? Er zähle sie nicht, winkt Hollerbach ab. Und es gehe schließlich nicht nur darum zu überleben. Manche seiner Patienten seien in kurzer Zeit zu unglaublichen Erkenntnissen gelangt und hätten „bei der nächsten Inkarnation“ ein total anderes Leben führen können. „Wir dürfen unser Leben nicht so kurz sehen.” Lothar Hollerbach hat sich im Nachhinein nicht zu diesem Text geäußert.
Im 3E-Zentrum in Remshalden, im Nordosten von Stuttgart gelegen, begegnet mir der Hokuspokus von Schuld und Sühne erneut. Die damalige medizinische Leiterin der Einrichtung, Elke Tegel, führt mich durch das lichte Haus, zeigt mir den „Innenweltreiseraum“, in dem traumatische Situationen bearbeitet werden, den Raum, in dem „Heilmusik“ abgespielt werde, und auch die Maschine für die „Hochfrequenztherapie“, bei der den Zellen elektrische Energie zugeführt werde. Gesamtkosten: 13 670 Euro für fünf Wochen. Krebs, sagt die Heilpraktikerin, sei „unterdrückte Wut und unterdrückter Ärger“, gerade bei einem Hodgkin-Lymphom gehe es um Schuld. Sie fragt: „Wo fühlen Sie sich schuldig? Schuldig, ein Mann zu sein?“
„Ich habe vieles versucht“, sagt eine Patientin
Später, im Bibliotheksraum, rät Tegel zu einer „biologischen Chemotherapie“, also hoch konzentriertem Vitamin C. Das sei einer herkömmlichen Chemo weit überlegen, von der Tegel überzeugt ist, dass ich sie nicht brauche. Sie verwechselt dann noch mein Hodgkin-Lymphom mit dem grundsätzlich unterschiedlichen Non-Hodgkin-Lymphom, und sagt zur Rechtfertigung: „Bei uns geht es nicht nach Diagnose, das interessiert nicht.“ Klaus Pertl, Geschäftsführer des 3E-Zentrums, verteidigt sich später schriftlich damit, dass wir nur eine „Hausführung“ gemacht und kein Beratungsgespräch bekommen hätten. Der Preis enthalte „das gesamte 5-Wochen-Programm plus Abholung von Stuttgart, plus Infusionen und Nahrungsergänzungsmittel“. Therapieempfehlungen könnten nur die zwei Ärzte des Hauses aussprechen, und mit denen hätte ich ja nicht gesprochen. Medizinische Beratung könne man hier nicht erwarten, das Haus sei lediglich ein „Seminarzentrum“.
Die Patienten sehen das offensichtlich anders. Wir essen mit ihnen zu Mittag, bekommen wie sie die „Öl-Eiweiß-Kost“ aus Quark und Nüssen, die den Tumor bekämpfen soll. Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint durch die Fenster, wir schauen auf den idyllischen Garten voll blühender Obstbäume. Doch es wird der bedrückendste Moment auf meiner Reise. Tischgespräch sind die Hoffnung auf die Therapie, die Heilmusik, die Innenweltreisen, die Darmspülungen. „Ich habe vieles versucht“, sagt eine Patientin, „aber ich habe endlich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein.“ Eine andere hat lange gespart, um sich die Therapie hier leisten zu können.
Die Angst vor dem Tod lässt die Erklärungen einleuchten
Ich fühle mich schäbig, will etwas sagen. Aber wer bin ich, diesen Menschen die Hoffnung zu nehmen? Natürlich ist die Schulmedizin nicht allmächtig, auch sie scheitert ständig an der Krankheit Krebs. Sie ist menschlich, macht Fehler, hat finanzielle Interessen, ist teils schroff und arrogant zu ihren Patienten. Sie verwirft sicher Geglaubtes, verleibt sich Neues ein, manchmal sind es auch die Theorien von Außenseitern. Doch das geschieht nach ausgiebiger Prüfung und Forschung.
Die alternativen Methoden entbehren dagegen meist jeglicher Plausibilität. Sie stützen sich auf Wunschdenken und Anekdoten – und vor allem auf die Angst. Es ist diese Angst, die ich in den dürren Gesichtern meiner Tischgenossen sehe, die lähmende Angst, die eine Krebsdiagnose mit sich bringt. Es ist die menschliche Angst vor dem Tod, die uns an jede scheinbar einleuchtende Erklärung klammern lässt, an jeden möglichen Sinn, an jede noch so vage Hoffnung auf Heilung. Es ist diese Angst, an der sich etliche Heiler bereichern.
Der Autor und sein Bericht
Autor Hristio Boytchev (34) ist Redakteur des Recherchezentrums correctiv.org. Für einen Film der Journalistin Claudia Ruby hat er sich bei Naturheilern als Krebspatient ausgegeben. Hier berichtet er über seine Erfahrungen mit Heilern aus Baden-Württemberg und von Kontakten nach dem Film, der erstmals im Oktober unter dem Titel „Das Geschäft mit der Angst“ bei Arte und im ZDF ausgestrahlt wurde. Auf der Website correctiv.org gibt es eine ausführlichere Version dieser Reportage.
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