Alle Säle waren gut gefüllt bei den 30. Jazztagen im Theaterhaus, neben großen Namen wie Wolfgang Haffner und Joo Kraus zogen auch aufstrebende Künstler wie Monika Roscher Publikum an – sogar jüngeres.

Stuttgart - Publikumsrekord! Rund 7500 Zuschauer haben die Jazztage bis Montagabend gezählt – „das ist eine Auslastung von 84 Prozent“, sagt Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier, „das hatten wir noch nie. Der Rekord steht auch ohne die beiden zusätzlichen Jubiläumstage. Vielleicht zahlt sich jetzt aus, dass wir das Spektrum erweitert haben.“ Die guten Besucherzahlen bescheren dem Theaterhaus Einnahmen, mit denen sich planen lässt, und so steht jetzt schon fest: Auch 2018 wird es das Festival wieder geben.

 

Blühende Fantasie

Einhellig ist der Jubel am Karfreitag über ein Gipfeltreffen des deutschen Jazz: Drummer Wolfgang Haffner treibt die Ergüsse des wunderbaren Jazzpianisten Michael Wollny mit der geschmeidigen Wucht eines Schiffsmotors an – und bei melodiösen Balladen mit der Zartheit von Schmetterlingsberührungen. Wollnys Körper ist ständig in Bewegung, als wolle er die Musik in seine schlanken bleichen Hände hineintanzen. Blühende Fantasie beflügelt seine Improvisationen, getragen von der puren Lust am gemeinsamen Spiel, die sich unmittelbar auf das enthusiasmierte Publikum überträgt. (stai)

Der Klang der Berge

So ein Trompetenduell sieht man selten: Jeder Ton schillert, wenn der Österreicher Martin Eberle und der Schweizer Andreas Schaerer Tonkaskaden in den Raum perlen lassen. Schaerer aber ist gar kein Trompeter, sondern ein begnadeter Stimmakrobat – was den Wettkampf beim „Alpenjazz“-Abend am Karfreitag etwas verzerrt, denn Schaerer fiept, tremoliert und juchzt weit übers Spektrum des Instrument hinaus.

Ein achtköpfiges Ensemble aus Alpenländlern hat sich im Halbkreis gruppiert wie um ein imaginäres Lagerfeuer, und was es spielt, erinnert an Weltmusik. Gestrig anmutende Instrumente wie Drehleier (Matthias Loibner) und Zither (Christof Dienz), sorgen für Farbtupfer, mit dem Schweizer Vokalartisten Christian Zehnder hat Schaerer einen Bruder im Geiste gefunden, der nicht minder einfallsreich jubiliert, grollt und jodelt. Der bayerische Tubaspieler Andreas Hofmeir nimmt im Solo derart Fahrt auf, dass die Töne sich zu überschlagen drohen. Das Stück indes kommt von weit her – „der Liedaufbau und der Polka-Rhythmus im brasilianischen Choro sind sehr bayerisch“, sagt Hofmeir mit gesundem Mutterwitz. Auch sein blauweißes Instrument signalisiert Engstirnigen: Traditionspflege und Weltoffenheit müssen keine Gegensätze sein. (ha)

Geburtstag feiern

Jazz-Musiker feiern runde Geburtstage gerne im Theaterhaus – 2017 sind es gleich vier, und der Ulmer Trompeter Joo Kraus (50) macht am Samstag den Anfang. Sein Quartett mit den Landesjazzpreisträgern Ralf Schmid (Flügel), Veit Hübner (Kontrabass) und Torsten Krill (Schlagzeug) wird vom Kammerorchester Arcata begleitet. Dazu bringen der kubanische Pianist Omar Sosa, die Saxofonlegende Pee Wee Ellis und die Sängerin Malia mit sinnlichem Timbre eigene Klangfarben ins Spiel. Kraus führt als „Smooth Operator“ durchs Pop-Jazz-Programm mit dem hellen Strahl seiner Trompete, plaudernd, pfeifend, singt elektronisch verfremdet und rappt zungenfertig.

Das Trompetenspiel von Tomasz Stanko (75) ist von kristalliner Klarheit und stets melancholisch angehaucht, als schwinge eine lebenslange Sehnsucht mit. Stankos lyrische Improvisationen mit dem jungen polnischen Klaviertrio RGG klingen gültig und gegenwärtig, das Publikum am Ostersonntag lässt sich berühren bei einem der schönsten Konzerte des Festivals.

Erstklassigen transatlantischen Jazz bieten dann die Jubilare Richie Beirach (70) und Gregor Hübner (50). Als Gaststar glänzt der Grammy-Gewinner und Power-Trompeter Randy Brecker, der sogar Balladen mit Hochdruck spielt. Als Rhythmusgruppe der drei New Yorker fungieren Veit Hübner, Gregors jüngerer Bruder, und der Rottenburger Drummer Michael Kersting. Die beiden Geburtstagskinder – seit 20 Jahren ein erfolgreiches Duo – ergänzen sich wunderbar. Der ältere beflügelt mit ideenreichem und einfühlsamem Klavierspiel den jüngeren, der einschmeichelnd schön, aber auch messerscharf und eindringlich Geige spielt. Dem Publikum wird einiges geboten: eine „Siciliana“ von Bach, Beirachs hymnisches „Elm“, „Round About Midnight“ von Monk und „Transition“ von Coltrane – ein vielseitiges und fulminantes „Birthday Concert“. Gratulation. (stai)

Der britische Beitrag

„Stuttgart!“ ruft Soweto Kinch in den Saal, und das eher jüngere Publikum antwortet im Chor: „Jazz!“ Das klingt nach Zukunft, und Kinch gestaltet sie mit. Er fügt Begriffe aus dem Auditorium – „Mother“, „Utopia“, „intelligent“ – in seinen Freestyle Rap ein und ist zugleich ein virtuoser Saxofonist, der vor Ideen sprüht und sich mit seinem Trio in einen regelrechten Rausch spielt, wie man ihn sich zu Jack Kerouacs Roman „On the Road“ vorstellt. Das ist alte Jazz-Schule, die in Verbindung mit dem sehr gegenwärtigen Rap eine Crossover-Brücke ins Jetzt weist.

Was die scheidenden Briten noch beizutragen haben? Der auf der Insel erfolgreiche Pianist Neil Cowley formt mit seinem Trio wunderliche Organismen, die an klanggewordene Trickfilmcharaktere erinnern. Sein aktuelles Album „Spacebound Apes“ (ins All strebende Affen) handle von „Lincoln, halb Mensch, halb Affe“, erklärt Cowley (44). „In Wahrheit ist er ein Mann in einer Midlife Crisis, was natürlich kein bisschen autobiografisch ist.“ Er wird fehlen, dieser trockene Humor von Leuten, die Songs schreiben über „ein Huhn, das Zeuge eines schrecklichen Verbrechens wird“. (ha)

Tänzer im Dialog

„Coupé to Moscow“ heißt das Stück, mit dem das Quartett um den Saxofonisten Magnus Mehl und dessen Bruder Ferenc am Schlagzeug die Begegnung mit Tänzern des Stuttgarter Balletts beginnt. Seine Inspiration verdankt es einer Zugfahrt, überhaupt erzählt der Sound vom Unterwegssein: Das Quartett klingt, als fahre man in einer Limousine durch blinkende Großstädte; manchmal lässt Gitarrist Martin Schulte die Scheibe herunter, dann dringt Chaos herein.

An diesem Abend jedoch ist Marco Goecke zugestiegen. Und der Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts macht alle Fenster auf: Die Musik zerfällt in fiebrige Partikel, der Tanz steht wie gewohnt unter nervöser Spannung. Doch als Fedor Ruskuc seinem Bass eine traurige Melodie entlockt, findet auch der Tanz eine neue Balance. Elisa Badenes, Agnes Su, Robert Robinson und Pablo von Sternenfels zeigen im Wechsel von choreografierter Strenge zu Improvisiertem, welche Kluft zu überwinden ist. Vor allem den Jungs glückt eine Lockerheit, die offen ist für den Dialog mit Musikern und Publikum. Ein Abend, von dem wie bei der ersten „Dance/Jazz Fusion“ alle profitieren. (ak)

Eine Naturgewalt

Eine ausgeklügelte Bigband-Kakofonie geht am Ostersonntag nieder, die aus den Fugen geratene Welt spiegelt sich darin. Um die „Unsicherheit der Märkte“, gehe es da, sagt die Münchner Bandleaderin Monika Roscher. Die 33-Jährige entfesselt mit ihrem vielköpfigen, jungen Ensemble eine Naturgewalt in komplexen Kompositionen, die verfangen, weil sie im Kern Indie-Rock-Nummern sind. Roscher dirigiert, singt mit glockiger Stimme, glänzt an der Gitarre und besteht gar als Performance-Künstlerin in einem Kostüm aus Leuchtringen und -punkten. Das Orchester kann leise ausmalen und den Saal zum Beben bringen – und auch unisono das Thema des opernhaften „Full Moon Theatre“ pfeifen und dazu schnippen. Vielgestaltiger kann Jazz kaum sein.

Zum Schluss bittet Roscher einen Gast auf die Bühne, „wegen dem ich die Band überhaupt gegründet habe“. Der Jubilar Gregor Hübner, ihr Kompositionslehrer an der Münchner Musikhochschule, entfacht nach seinem Geburtstagskonzert noch einmal ein hypnotisches Flirren der Töne, bei dem die Frisur seines Geigenbogens in Unordnung gerät. So vererbt sich Jazz als Idee und treibt immer neue, unerhörte Blüten. (ha)