Erst am Dienstag ist ein Lkw-Fahrer im Kreis Ludwigsburg in ein Stau-Ende gerast. Ist die Gefahr solcher Unglücke wirklich größer geworden? Wir stellen Daten, Fakten und Zahlen vor.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Wenn ein 40-Tonner in ein Stau-Ende rast, werden die wartenden Pkw zusammengedrückt, als wären sie aus Pappe. An diesem Montag: Ein Lastwagen kracht auf der A 5 bei Walldorf in einen Stau und schiebt zwei Autos unter den Laster vor ihnen. Vier Menschen sterben. Am Dienstag: Auf der A 3 bei Limburg sterben zwei Menschen, als ein Lkw auf einen Reisebus auffährt. Am selben Tag übersieht ein Lkw-Fahrer auf der A 81 bei Ludwigsburg das Stau-Ende und kracht in den Lastwagen vor ihm. Dessen Fahrer wird schwer verletzt.

 

Was ist los auf Deutschlands Autobahnen? Sind Lkw eine rollende Gefahr? Ist es nur eine gefühlte Wahrnehmung, oder werden die Autobahnen tatsächlich zu Risikozonen?

Die Zahl der Unfälle mit schweren Lkw nimmt seit Jahren ab – trotz gestiegenen Lkw-Verkehrs. Zwischen 1995 und 2016 sank die Zahl von rund 18 000 auf 4650. Pro Jahr ereignen sich laut Unfallforschung der Versicherer (UDV) durchschnittlich 330 Auffahrunfälle durch schwere Lkw mit Schwerverletzten und Toten. Dabei starben 2016 dem ADAC zufolge 745 Menschen, darunter 132 Lkw-Fahrer, rund 3000 Personen wurden schwer verletzt.

Häufigste Unfallursachen auf Autobahnen: geringer Abstand und hohe Geschwindigkeit

Geringer Abstand Die beiden häufigsten Unfallursachen auf Autobahnen sind laut Auto Club Europa (ACE) zu hohe Geschwindigkeit und geringer Abstand. 2016 waren mehr als 20 Prozent der 4650 schweren Lkw-Unfälle und 30 Prozent der dabei Getöteten auf Lkw-Zusammenstöße mit vorausfahrenden Fahrzeugen zurückzuführen. „Lkw sind seltener an Unfällen beteiligt, allerdings sind die Folgen bei Kollisionen mit Lkw meist viel dramatischer, die Unfallschwere überdurchschnittlich hoch“, sagt ADAC-Verkehrsexperte Roman Suthold.

Mindestabstand Der gesetzliche Mindestabstand für Lkw auf Autobahnen beträgt, wenn sie schneller als 50 Kilometer pro Stunde fahren, 50 Meter. Eine der häufigsten Ursachen für Lkw-Unfälle ist laut ADAC zu geringer Abstand zum Vordermann. Häufig betrage der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug nur wenige Meter. Auffahrunfälle mit schwerwiegenden Folgen seien praktisch unausweichlich, sagen die Versicherer.

Viele Lastwagenfahrer sind chronisch übermüdet

Übermüdung Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) führt jedes Jahr rund 500 000 Fahrzeugkontrollen durch. Bei jeder dritten Überprüfung stellen die Beamten Verstöße gegen das Fahrpersonalrecht sowie die Lenk- und Ruhezeiten fest. Eine Befragung der Unfallforschung der Versicherer unter Kraftfahrern ergab, dass jeder vierte Lkw-Fahrer pro Woche mehr als 60 Stunden arbeitet. Aufgrund von Übermüdung und des monotonen Fahrens auf langen Strecken können Fahrer mitunter „bei einer plötzlichen Veränderung der Verkehrslage nicht mehr rechtzeitig reagieren und fahren einfach weiter“, erklärt Wolfram Hell, Leiter der Unfallanalyse des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität München.

Ablenkung Das Handy habe Alkohol als Unfallursache Nummer eins am Steuer abgelöst, sagt Michael Haberland, Präsident des Automobilclubs Mobil in Deutschland. Eine Studie des Virginia Tech Transportation Institute von 2016 ergab, dass sich das Unfallrisiko durch Smartphone-Nutzung um ein Vielfaches erhöht. Nach Aussage von Sven Rademacher vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat entspricht Telefonieren am Steuer von der Wirkung her einem Alkoholgehalt von 0,8 Promille, die Ablenkung durch SMS-Schreiben sogar 1,1 Promille.

Oft ist nicht die Technik das Problem, sondern die Politik

Technische Defizite Seit 2015 müssen alle in der EU neu zugelassenen Lkw mit mehr als acht Tonnen Gewicht über einen Notbremsassistenten verfügen. Seit Jahresbeginn ist dieser für alle Nutzfahrzeuge über 3,5 Tonnen verpflichtend. Eine Abbremsung auf null ist bei Lkw technisch möglich. Gesetzlich vorgeschrieben ist aber nur, dass diese Systeme die Fahrzeuge um 20 km/h herunterbremsen. Hinzu kommt: Nur Neufahrzeuge müssen mit dem Bremssystem ausgestattet werden. Eine Nachrüstung älterer Modelle ist technisch nicht möglich und wäre viel zu kostspielig. Ein Notbremssystem hätte laut Unfallforschung der Versicherer in bis zu 80 Prozent der Fälle einen Lkw-Unfall verhindern oder seine Folgen deutlich abmindern können.

Der ADAC testete 2017 Lkw-Notbremsassistenten von großen Herstellern wie Mercedes-Benz, MAN und Volvo. Fazit: Intelligente Sensorik und modernste Software machen die automatischen Notbremssysteme sehr effektiv. Sie leisten „eine Unfallvermeidung bis 80 km/h selbst bei dem kritischsten Fall des stationären Hindernisses (Beispiel: Stau-Ende). Die Bremswirkung ist der eines Pkw ebenbürtig.“

Nicht die Technik ist das Problem, sondern eher die Politik, da es – wie in anderen Lebensbereichen auch – dauert, bis strengere Vorschriften gesetzlich umgesetzt werden. Die Bundesanstalt für Straßenwesen prüft derzeit im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums die Möglichkeiten, Notbremssysteme für Lastwagen verkehrstechnisch häufiger als bisher umzusetzen. Untersucht wird unter anderem, inwiefern eine Vorschrift sinnvoll ist, dass man die Technik nicht dauerhaft abschalten darf.