Unfall-Gutachter in Stuttgart Mit Kreide, Zollstock und Go-Pro – Wie Experten schwere Unfälle rekonstruieren

Der Sachverständige Peer-Oliver Küttner inspiziert die beschädigte Front eines Audis. Foto: Sebastian Steegmüller

In der Region Stuttgart kam es in den letzten Monaten zu mehreren tödlichen Verkehrsunfällen, zuletzt am Olgaeck. So suchen Dekra-Gutachter nach den Ursachen.

Ein Fahranfänger kommt in den frühen Morgenstunden in der Stuttgarter Innenstadt von der Fahrbahn ab und prallt mit der Front seines Wagens gegen eine Betonsäule. Mehrere Insassen werden schwer verletzt, teils besteht Lebensgefahr. Die Unfallursache ist zunächst unklar. War der junge Mann zu schnell unterwegs, wurde er von einem Autofahrer abgedrängt oder am Steuer abgelenkt?

 

In solch einem Fall ziehen die polizeilichen Ermittler beziehungsweise die Staatsanwaltschaft Sachverständige wie Peer-Oliver Küttner hinzu. Er ist bei dem Deutschen Kraftfahrzeug-Überwachungs-Verein (Dekra) Leiter der achtköpfigen Abteilung Fahrzeugtechnik und Unfallanalyse und erstellt Gutachten zur Aufklärung von Unfällen. Diese dienen später der juristischen Aufarbeitung. Einer seiner Mitarbeiter war Anfang Mai auch am Olgaeck im Einsatz. Damals war ein 42-Jähriger mit einer Mercedes G-Klasse in eine Menschengruppe gefahren. Eine Fußgängerin verstarb, sieben Personen wurden teils schwer verletzt. Zum derzeitigen Ermittlungsstand darf sich weder der mit dem tödlichen Unfall betraute Kollege noch Peer-Oliver Küttner äußern – wohl aber zur allgemeinen Vorgehensweise.

Fahrzeuge nicht bewegen

Werden die Experten, die in Schichten rund um die Uhr in Bereitschaft sind, zu einem Unfall gerufen, haben sie es zwar nicht ganz so eilig wie die alarmierten Einsatzkräfte, dennoch sollten auch sie zeitnah ausrücken. Sobald Küttner vor Ort ist, schnappt er sich Kamera und Diktiergerät. Dann sucht er den Sachbearbeiter der Polizei auf, um sich auf den aktuellen Stand bringen zu lassen. Zunächst gilt es, die Geschwindigkeiten der Unfallbeteiligten grob zu bestimmen. Diese Analyse wird dann im Lauf des Gutachtens möglichst präzisiert. „Das A und O für unsere Arbeit ist, dass die Fahrzeuge nach der Kollision nicht von der Unfallstelle wegbewegt oder deren jeweilige Standorte dokumentiert worden sind“, sagt der 59-Jährige. „Ansonsten können wir eigentlich gar nicht mehr viel machen.“

Denn egal, ob zwei etwa gleich schwere Autos mit Tempo 40 und 60 oder jeweils mit 50 Kilometern pro Stunde frontal zusammenstoßen, sind „die Beschädigungen an den Fahrzeugen sind von der Intensität her identisch“, so Küttner. Man müsse die Stelle, an denen sie zum Stehen gekommen sind, mit der Kollisionsstelle in Relation setzen können. Auch Scherben und andere abgerissene Fahrzeugteile könnten von Bedeutung sein. Wird ein Radfahrer oder Fußgänger von einem Auto erfasst, ist entscheidend, wie weit die Person durch die Luft geschleudert wird. Ebenso die Stelle, an der sie auf die Motorhaube oder in die Windschutzscheibe gekracht ist. Bei tödlichen Unfällen nehmen die Experten auch schon mal an der Obduktion teil, um weitere Erkenntnisse zu erhalten.

Unfallbilder per Drohne

Noch immer zählen Kreide, ein riesiger Zollstock und ein Messrad zum festen Equipment der Unfallanalytiker. Doch auch die moderne Technik hat Einzug in ihren Arbeitsalltag gehalten. So verfügen die Dekra-Sachverständigen über Drohnen, die aus der Vogelperspektive Aufnahmen von Unfällen erstellen. Alternativ, bei schlechtem Wetter oder in Flugverbotszonen, werden mit einer Go-Pro, einer Actionkamera, die auf einem vier Meter langen Stativ montiert ist, tausende Bilder gemacht. Anschließend berechnet ein Programm daraus eine Draufsicht. Bei komplexen Fällen können die Experten sogar Beweg-3D-Modelle generieren, sodass sich der Unfallhergang aus jeder beliebigen Richtung betrachten lässt.

Die Technik zunutze machen sich die Sachverständigen auch an anderer Stelle. Mit einem Diagnosegerät lassen sich aus neueren Fahrzeugen neben der Geschwindigkeit auch Beschleunigung, Verzögerung und Gaspedalstellung auslesen. Darüber hinaus werte man Smartwatchs von Fußgängern oder Radcomputer aus und greife auf Aufzeichnungen der Verkehrsüberwachung und von Dashcams zu.

Am PC lassen sich Beweg-3D-Modelle eines Unfalls erstellen. Foto: Dekra

Maximal drei Monate gibt die Staatsanwaltschaft den Analytikern in der Regel Zeit für ein Gutachten. Knapp bemessen, sollte ein Unfall mit Berücksichtigung der Lichtverhältnisse wie tief stehender Sonne nachgestellt werden müssen. Mit solch einer Maßnahme soll unter anderem ermittelt werden, wer ab welchem Zeitpunkt zu erkennen gewesen ist. „Das Wetter kann einem wirklich einen Strich durch die Rechnung machen. Man trifft sich bei Dunkelheit, hat eine ähnliche Bewölkung und in etwa dieselbe Mondphase. Doch dann fängt es plötzlich an zu regnen, obwohl die Fahrbahn eigentlich trocken sein soll. Dann kann man wieder heimgehen“, so Küttner. Umgekehrt sei das einfacher. „Sollte man bei Trockenheit eine regennasse Straße benötigen, kann man die Feuerwehr um Hilfe bitten.“

Unwissenheit sollte man sich eingestehen

Der größte Fehler, den man bei der Ausarbeitung eines Gutachtens machen könne, sei sich Unwissenheit nicht einzugestehen. „Wenn ich mich in einem Themenbereich nicht auskenne, muss ich mich eben einarbeiten oder Kollegen um Hilfe bitten“, sagt der gelernte Kfz-Mechaniker und studierte Fahrzeugtechniker, der seinen Job trotz oder wegen der variablen Arbeitszeiten liebt. „Es ist viel Aufwand. Ich will aber nichts anderes mehr machen.“ Beim eingangserwähnten Unfall in der Stuttgarter Innenstadt kam er letztlich zum Schluss, dass der junge Mann alleinbeteiligt von der Fahrbahn abgekommen ist. Dass die Tachonadel bei der Kollision bei rund 100 Kilometern pro Stunde stehen geblieben ist, war ein erster Anhaltspunkt. Aber auch die weitere Analyse ergab, dass er viel zu schnell unterwegs war. „Selbst der beste Autofahrer hätte bei dem Tempo in der Rechtskurve die Kontrolle über den Wagen verloren.“

Schwere Unfälle in der Region

Stuttgart
Ein 42 Jahre alter Mann ist am Abend des 2. Mai 2025 an der Stadtbahnhaltestelle Olgaeck in Stuttgart-Mitte mit einer Mercedes G-Klasse nach links von der Fahrbahn abgekommen und in eine Gruppe von Menschen gefahren. Eine 46 Jahre alte Frau verstarb wenig später in einem Krankenhaus, sieben weitere Personen, darunter auch Kinder, wurden teils schwer verletzt. Eine Amokfahrt konnte frühzeitig ausgeschlossen werden. Noch ist die Unfallursache aber unklar. Die Stadt prüft, ob die Sicherheit an dem Verkehrsknotenpunkt durch bauliche Maßnahmen erhöht werden kann.

Ludwigsburg
Bei einem Verkehrsunfall in Ludwigsburg verstarben im vergangenen März zwei Frauen im Alter von 22 und 23 Jahren. Ihr Wagen wurde beim Ausfahren aus einer Tankstelle in die Schwieberdinger Straße von einer Mercedes S-Klasse gerammt und gegen Bäume geschleudert. Der Fahrer der Luxuslimousine war offenbar viel zu schnell unterwegs. Gegen ihn und einen weiteren, mutmaßlichen Raser wird wegen der Teilnahme an einem illegalen Autorennen ermittelt. Die 32 und 34 Jahre alten Männer sitzen in Untersuchungshaft.

Esslingen
Im Oktober 2024 kamen eine 39 Jahre alte Frau und ihre zwei kleinen Söhne in Esslingen-Weil ums Leben. Die drei Fußgänger waren auf einem Gehweg unterwegs und wurden dort vom Audi eines 45-Jährigen erfasst. Sie verstarben noch am Unfallort. Noch ist unklar, warum der Mann die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat. Er war weder alkoholisiert noch hatte er Drogen genommen.

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