Necdet Sancak greift bei einem Unfall als einziger ein – und erlebt am Straßenrand den alltäglichen Rassismus, der ihm als Stuttgarter mit türkischen Wurzeln immer wieder entgegenschlägt. „Das tat weh“, sagt er.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Eigentlich will Necdet Sancak nicht in die Zeitung kommen. Denn er hält das, was er getan hat, nicht für etwas Besonderes. Der 45-jährige Gablenberger mit türkischen Wurzeln leistete vor ein paar Tagen einem Unfallopfer in Feuerbach erste Hilfe. Die Tatsache, dass er der einzige gewesen ist, der zu dem Auto ging, an dessen Steuer der Fahrer bewusstlos zusammensackte, mache seine Geschichte dann doch erzählenswert, das räumt er ein.

 

Sancak war mit seiner Frau zur Tochter nach Feuerbach gefahren. Auf dem Rückweg geschah der Unfall auf der Stuttgarter Straße: „Der Wagen rollte plötzlich los“, erinnert sich der 45-Jährige. Er fuhr dann nicht wie alle anderen weiter. „Das ist doch komisch, dachte ich, normal steigt aus einem Unfallauto doch sofort jemand aus und schaut nach, was kaputt ist.“ Necdet Sancak stieg aus, ging zum Wagen, und sah, dass der Fahrer des Transporters bewusstlos im Sicherheitsgurt hing. Da die Türen abgeschlossen waren, holte er die Abschleppstange aus seinem Auto und schlug die Scheibe ein. „Ich habe einer Frau auf dem Gehweg gesagt, sie soll den Rettungsdienst rufen, die kamen auch schnell.“ Sonst habe weiterhin niemand mitgeholfen. Sancak öffnete die Jacke des Autofahrers – darauf reagierte dann ein Passant. Allerdings anders als erhofft: „Was machen Sie an den Taschen des Mannes?“ habe der gefragt. Für Sancak unfassbar: „Wenn ein Mensch Hilfe braucht, sieht es keiner. Aber wenn ein Türke eine Autoscheibe einschlägt, kommt jemand. Der hat mich gleich für einen Kriminellen gehalten“, schimpft er.

Lebensretter begann sofort mit einer Herzdruckmassage

Sancak ignorierte den Passanten und startete eine Herzdruckmassage. So konnte er den Mann stabilisieren, bis wenig später die Rettungskräfte eintrafen. „Ich hatte erst Angst, dass ich etwas falsch mache. Aber da die Sanitäter auch eine Herzmassage machten, war ich beruhigt. Dann war wohl alles richtig“, sagt er. Der verunglückte Mann wurde ins Krankenhaus gebracht. Sancak erfuhr nicht, wie es ihm ging.

Der 45-Jährige will das Wort Vorbild nicht hören – und ist doch froh, dass er die Nerven behalten und richtig gehandelt hat. „Ich arbeite bei Audi in Neckarsulm als Gruppensprecher, da muss man auch die Nerven behalten, wenn an der Straße mal eine Anlage ausfällt. Wenn das Band läuft, die Motoren aber nicht fertig sind, hilft es, ruhig zu bleiben.“ Diese Ruhe habe er auch in der Situation am Unfallort bewahrt. „Ich habe gebetet, Gott hilf mir, damit der Mann nicht stirbt“, erzählt der Stuttgarter.

Ein weiteres Gebet ist hinzugekommen, als er anfing, über das latent ausländerfeindliche Einschreiten des Passanten nachzudenken: „Ich bete, dass wenn mir mal so etwas passiert, jemand hilft und nicht auf Hautfarbe und Herkunft achtet – so wie ich auch. Für mich war da ein Mensch in Not – egal, wo er herkommt.“

Erste Hilfe wurde von einigen zunächst falsch interpretiert

Kleine Anfeindungen im Alltag sei er gewöhnt, denen messe er keine große Bedeutung zu, sagt der 45-Jährige, der im Alter von wenigen Monaten nach Deutschland kam. „Wenn einer Kanake oder so was sagt, das höre ich schon gar nicht mehr. Der könnte auch Guten Morgen sagen.“ Einmal habe ihn ein Busfahrer schräg angesehen, als er nach Hause in das ruhige Wohngebiet unterhalb vom Buchwald fuhr, und ihn gefragt, ob er sicher sei, dass er im richtigen Bus sitze. „Geschenkt“, sagt Sancak. Was ihm an jenem Montag in Feuerbach geschah, kann er aber nicht so schnell vergessen. „Ich tue alles, um den Mann zu retten – und was sehen die Leute? Einen Türken, der randaliert, vielleicht den Fahrer ausraubt. Das tat echt weh“, sagt Necdet Sancak. Zwei Dinge wünscht er sich: „Dass mehr Leute so helfen wie ich, und dass man einfach nur den Menschen sieht.“