Durch Übungen mit dem Neuropsychologen Wolfgang Kringler versucht Ilka Lau, ihre Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Foto: Werner Kuhnle
Ilka Lau aus Marbach-Rielingshausen geriet unverschuldet bei Großbottwar (Kreis Ludwigsburg) in einen Verkehrsunfall. Bis heute leidet sie unter den Folgen.
Christian Kempf
01.07.2025 - 18:00 Uhr
Ilka Lau ärgert sich bis heute über ihre Hartnäckigkeit. Hätte sie am 12. April 2024 bloß nicht mehrmals zu ihrem Mann gesagt, dass sie ihn unbedingt beim Getränkekauf begleiten will! Dann wäre ihr Alltag wahrscheinlich nicht aus den Fugen geraten. Ilka Lau würde mit dem Rennrad glücklich ihre Runden drehen, würde in einem Buch versinken oder vielleicht laut Musik hören. Doch die zierliche Frau mit den langen roten Locken setzte sich an jenem Freitag zu ihrem Gatten ins Auto – womit das Unheil seinen Lauf nahm und das Leben der Bankkauffrau aus Rielingshausen auf den Kopf gestellt wurde.
Auf dem Autobahnzubringer zwischen Aspach und Großbottwar war der Verkehr plötzlich ins Stocken geraten. Ilka Laus Mann erkannte die Situation rechtzeitig, trat aufs Bremspedal. „Dann hörte ich einen riesigen Schlag und kurz darauf noch einen riesigen Schlag. Das ging alles blitzartig schnell. Dann weiß ich erst mal gar nichts mehr“, sagt sie. Die 55-Jährige muss kurz bewusstlos gewesen sein, nachdem ein junger Mann von hinten mit seinem VW in den Mercedes der Laus gerauscht war. Der Mercedes wurde auf die Gegenfahrbahn geschleudert, kollidierte mit einem entgegenkommenden Skoda. Drei Stunden war die Straße gesperrt. Im Polizeibericht von damals hieß es, die Insassen des Mercedes seien leicht verletzt worden.
Nichts Dramatisches also, könnte man meinen. Aber die Rielingshäuserin leidet bis heute unten den Folgen des Unfalls, ist seitdem krankgeschrieben und in Therapie. An sportliche Anstrengung ist nicht zu denken. In einer Hand hat sie manchmal Taubheitsgefühle. „Ich kann auch keine Bücher mehr lesen. Nach ein paar Seiten ist der Akku alle und mir wird schwindelig. Das geht bis zum Erbrechen. Wenn ich einen Film schauen möchte, schlafe ich nach spätestens einer Dreiviertelstunde ein“, sagt sie. Quietschen auf der Straße Reifen, zuckt sie zusammen. Kurze Strecken mit dem Auto gehen wieder. „Aber wenn jemand dicht auffährt, bin ich sofort beunruhigt“, erzählt Ilka Lau.
Aus psychologischer Sicht ist ihr offenbar zum Verhängnis geworden, dass sie körperlich keine gravierenden Verletzungen davongetragen hat und nur kurze Zeit weggetreten war. „Wenn der Unfall schwer war, ist der Vorteil für das normale Leben des Patienten, dass das Ereignis gelöscht ist“, sagt der Neuropsychologe Wolfgang Kringler, der Ilka Lau im Rehazentrum Hess in Bietigheim-Bissingen behandelt. Wache man allerdings schnell und beispielsweise eingeklemmt in einem Fahrzeug auf, „dann macht das was mit einem“, betont er.
Das Martyrium fängt nach demKrankenhausaufenthalt an
Bei dem Unfall vor mehr als einem Jahr hat es den Mercedes der Familie Lau übel erwischt. Foto: Archiv (KS-Images.de/Karsten Schmalz)
Davon kann Ilka Lau ein Lied singen. Sie kam nach dem üblen Unfall vergleichsweise flott wieder zu sich, als sich über das autointerne Notrufsystem eine Stimme meldete und verkündete, Notarzt und Polizei seien unterwegs. Lau schälte sich an den herunterhängenden Airbags vorbei und taumelte nach draußen, sah den schwer verletzten Fahrer des Skoda neben seinem Wagen liegen und Rettungssanitäter auf sich zustürzen. „Mein erster Gedanke war, so schizophren sich das anhören mag: Unser neues Auto ist kaputt. Ob sich das wohl reparieren lässt?“, sagt sie. Zwischenzeitlich hatte es auch ihr Mann aus dem Wrack geschafft. Beide wurden von den Einsatzkräften versorgt.
Sie erlebte die ganze Szenerie wie in Trance. Um sie herum eine Kakophonie aus Geräuschen, Lärm und Stimmen. „Das nennt man Derealisation. Man steht neben sich und hört sich selbst sprechen. Wie eine Kopie von einem selbst“, erklärt Wolfgang Kringler. Ilka Lau wurde ins Krankenhaus nach Bietigheim gebracht. Nach drei Tagen durfte sie die Klinik wieder verlassen. Ihr Martyrium fing dann aber eigentlich erst an.
Zunächst waren da die körperlichen Leiden. Ein Finger und eine Rippe waren gebrochen, praktisch alle anderen Teile des Leibs geprellt, dazu gesellten sich eine Gehirnerschütterung plus Schleudertrauma sowie ein Bandscheibenvorfall. „Mir ging es nicht gut. Ich habe mich gefühlt wie ein toter Fisch“, sagt Ilka Lau. Doch selbst als diese Beschwerden nach einigen Wochen abgeklungen waren, blieben Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung und schlechter Schlaf. „Nach neun Monaten dachte ich mir: Da kann doch was nicht stimmen“, sagt sie. Und schließlich war ihr klar, dass nur eine Reha weiterhelfen würde.
Wolfgang Kringler erklärt Ilka Lau, welche komplexen Vorgänge sich in einem Gehirn nach extremen Vorfällen abspielen können. Foto: Werner Kuhnle
Seit dem 12. März kämpfte Ilka Lau in Bietigheim jeden Werktag von morgens bis teilweise in den Nachmittag hinein um die Rückkehr in die Normalität. Unter anderem wurde sie unter Anleitung an Fitnessgeräten getrimmt, machte Yoga, stärkte ihren Gleichgewichtssinn und die Halswirbelsäule, nahm an Gruppentherapiesitzungen teil, besuchte Vorträge, wurde wöchentlich ärztlich durchgecheckt und war auch bei Wolfgang Kringler in Behandlung. Der Neuropsychologe arbeitete mit ihr insbesondere an der Wiederherstellung ihrer geistigen Leistungs- und Belastbarkeitsfähigkeit. Wobei die einzelnen Fachdisziplinen des Rehazentrums vernetzt seien und sich austauschten, wie Kringler betont.
Dieses Zusammenspiel hat Ilka Laus Befinden deutlich verbessert, wenngleich sie längst noch nicht wieder die Alte ist. „Die sportlichen Anwendungen haben mich körperlich auf jeden Fall ein Stück vorangebracht. Psychisch bin ich noch in Therapie und hoffe, dass das jetzt stabiler wird. Bei der Konzentrationsfähigkeit habe ich Fortschritte gemacht, bin aber noch nicht da, wo ich sein möchte und war“, sagt sie. Das Trauma des Unfalls müsse noch aufgearbeitet werden. „Das geschieht aber bei einer niedergelassenen Kollegin“, betont Kringler, der sich mit der Entwicklung seiner Patientin zufrieden zeigt. „Es ist gut gelaufen. Ihr Vorteil war, dass sie nicht zu schnell aufgegeben hat“, resümiert er.
Deshalb ist nun der Weg für die Wiedereingliederung frei. Ab August will sich die Bankkauffrau in ihren Job zurücktasten, nach einer Auszeit von mehr als einem Jahr wegen eines Unfalls – der in den Nachrichtenspalten nur eine kleine Meldung war, aber schlimme Folgen hatte.