Unverstellt, direkt und ziemlich farbenfroh – die Ausstellung Alb Brut im Münsinger Albgut zeigt Werke von Menschen mit Behinderungen. In den Baracken des ehemaligen Kasernengeländes sind rund 300 Arbeiten zu sehen.

Münsingen - Tief unter der Erde sind sie eingesperrt, gelbe Einzeller, die sich dicht aneinander drängen. Über ihnen hängt die Nacht, dunkelschwer, wie eine Bleiplatte. „Das hab’ ich gemacht“, sagt Albert Giese, Kapitänsmütze, Hose in Tarnfarbe und ein Lachen, das gar nicht mehr aufhören will. „Ich kann malen“, sagt er vergnügt und führt die Besucherin zu seinen Werken. Von den Einzellern zu den Affengesichtern, die er sich von Pablo Picasso abgeschaut hat, von den Vogelschwärmen bis zu einem Porträt in Acryl. „Das ist meine Frau“, feixt er – und es dauert, bis er die richtigen Worte gefunden hat: „Schön, nicht wahr?“

 

Der malende Kapitän mit der Liebe zu kräftigen Farben ist einer von zwölf Künstlern, deren Arbeiten im Münsinger Albgut (Kreis Reutlingen) ausgestellt sind. Alb Brut heißt die Schau, die noch bis 30. September zu sehen ist. Ein Wortspiel, das sich anlehnt an jenen Begriff, den einst der französische Maler Jean Dubuffet (1901–1985) geprägt hat: Art brut. Er suchte Kunst an den Rändern der Gesellschaft, in Psychiatrien, auf der Straße, autodidaktische Schöpfungen, unverstellt und roh. Genau das finden die Besucher der einstigen Kasernenanlage mit ihren Backsteinbaracken. Gut 300 Werke, geschaffen von Menschen mit psychischen und oft auch körperlichen Behinderungen. Die Flugobjekte des Visionärs und Korbflechters Gustav Mesmer (1903–1994) sind raumgreifend vertreten. Platz brauchen auch die mit viel Akribie konstruierten Kran- und Baumaschinen des Autisten Roland Kappel aus der diakonischen Einrichtung Mariaberg oder die Nackten von Josef Wicker. Ein Buntstiftfan. Er hat Akte in Kunstbänden angeschaut, sich abgeschaut, wie Körper gezeichnet werden können. Der 59-Jährige mit der halbseitigen Lähmung ist ein Meister der schlichten Linien, er nimmt sich Zeit für seine monochromen Farbflächen. Voller Geduld geht er zu Werke.

Im Laufe der Jahre wird der malende Kapitän immer mutiger

Lesen und schreiben kann Albert Giese nicht, den Pinsel aber will der 80-Jährige seit seinem Ruhestand nicht mehr loslassen. Fünf Tage die Woche geht er jeden Vormittag ins Kunstatelier der Bruderhausdiakonie Buttenhausen, bemalt alles, was er in die Hände bekommt: Tapetenrollen, Kartons, Stoff, stapelweise Papier. „Albert ist ein Schneller, einer, der voller Energie steckt“, erzählt die Atelierleiterin Sarah Boger. Die Kunsttherapeutin hat in zwei Jahrzehnten miterlebt, wie die Farben auf seinen Bildern bunter wurden, wie er den Einzellern Gesichter und Charakter gab, wie er sich hinaus auf die hohe See wagte und begann, Boote zu zeichnen. Immer mutiger, immer selbstbewusster.

Die Kunst ist vieles für Albert Giese. Sie ist seine Form des Ausdrucks. Denn das Sprechen fällt ihm schwer. Sie ist sein Weg in die Gesellschaft hinein. Seine Bilder werden regelmäßig gezeigt, bei mehr als einem Dutzend Ausstellungen hat er schon mitgemacht. „Ich muss malen“, sagt Giese und schaut stolz auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das ihn in Großaufnahme zeigt – „Der Kapitän“.

Klaus Rexin schreibt Gedichte auf Zettel

Nur einen Raum weiter steht Klaus Rexin, die Hände in der Hosentasche, ein nachdenklicher Blick. „Lebenszeichen“ heißt das Büchlein, das ordnet, was der 70-Jährige mit dem weißen Rauschebart in seiner Wohngruppe an Wände und Türen geklebt hatte: Poesie auf Zetteln, Handgeschriebenes wild verteilt. „Habe nur ein Herz mitbekommen und keinen Kopf zum Denken“, lautet der Anfang einer der Texte. Die Beschreibung seiner Person ist kurz und schnörkellos: „Ich habe, glaube ich, seit meiner Geburt, einen Fehler weg.“ Rexin ist Poet und bildender Künstler, in seinem Zimmer hat er alle Möbel bunt angestrichen, er trägt ein bordeauxrotes Haarband, passend zum Hemd. Seine Landschaften spiegeln sein Leben wider, „ich bin zur See gefahren“, erzählt er mit leiser Stimme und will sie am liebsten vergessen, die Zeit als Deckarbeiter. Zwei Schiffe im Wolkengrau, Bergszenen, das sind die Anfänge. Über die Jahre sucht Rexin den Weg ins Abstrakte, reduziert die Formen, stilisiert die Motive. Die Häuser sehen aus wie Spielzeug, Blumen wachsen symmetrisch und kerzengerade aus dem Rasen.

Infos zur Ausstellung