Vor einem Jahr starben eine Mutter und ihre Tochter aus dem Raum Ludwigsburg beim Skifahren in Italien. Der Vater und andere Sportler aus der Gruppe haben überlebt, müssen aber befürchten, in Italien vor Gericht gestellt zu werden.

Südtirol/Ludwigsburg - Im Internet kann jeder zu jeder Zeit und von jedem Ort der Erde aus einen Blick auf die Südtiroler Alpen werfen. In diesen Tagen präsentieren die Webcams das Urlaubsparadies von seiner schönsten Seite. Meist strahlt die Sonne, der Himmel ist blau, und gut gelaunte Skiläufer wedeln die Haideralm hinab. Der Schnee sei griffig, heißt es im dazugehörigen Wetterbericht, und der Zustand der Pisten sehr gut. Vor einem Jahr, am 3. Januar 2018, war das anders. Der Tag begann schön, doch plötzlich kippte das Wetter, und die Kameras zeigten eine dunklere Seite der Alm. Es schneite, der Wind pfiff eisig über die Berghänge, die Sicht war schlecht.

 

Um 14.04 Uhr kommt es zur Katastrophe. Auf 2600 Metern löst sich auf einer Länge von 150 Metern ein Schneebrett, rast den Berg hinunter und auf 2100 Metern über drei Menschen hinweg. Einer kann sich selbst befreien, für eine 45-jährige Mutter und ihre elfjährige Tochter kommt jede Hilfe zu spät. Schon wenige Stunden später schaltet die Schneeläuferzunft in Ludwigsburg ihre Homepage ab. Nur zwei Sätze bleiben übrig. „Die Schneeläuferzunft trauert. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen.“ Damit ist bestätigt, was vorher ein Gerücht war: Die Opfer stammen aus der Umgebung von Ludwigsburg.

Die Skifahrer gehörten der Schneeläuferzunft an

Sie waren als Teil einer neunköpfigen Gruppe, alles Mitglieder der Schneeläuferzunft, abseits der Piste durch Tiefschnee gefahren, auch der Familienvater war dabei und musste die Tragödie mit ansehen. Wegen des starken Winds und Schneefalls gelangte die Bergwacht spät zum Unglücksort. Erst nach einer Stunde konnten die Verschütteten geborgen werden.

Viele Menschen äußerten sich in den Tagen danach zu dem Unglück, viele Medien berichteten, und das nicht immer sensibel. Die „Bild“-Zeitung druckte verpixelte Fotos der Opfer und ließ einen Bergretter vorschnell die Schuldfrage beantworten: Die Ludwigsburger seien übermütig gewesen und hätten die Lawine selbst ausgelöst.

Als seien sie nicht genug gebeutelt, rollte nun auch eine Medienlawine über die Skifahrer und den Vater hinweg, der seine Frau und seine Tochter verloren hat. Er selbst äußerte sich nicht, bis heute nicht. Die anderen Mitglieder der Gruppe haben ebenfalls vereinbart, den Medien keine Auskünfte zu geben. Irgendwann wurde es wieder still.

Nur in Italien nicht, in der Procura di Bolzano, der Staatsanwaltschaft in Bozen. Sofort nach dem Unglück hatten Carabinieri die Überlebenden befragt. Damals betonte ein Sprecher der Polizei, es handle sich um Anhörungen, nicht um Verhöre. Später aber verdichteten sich die Anzeichen, dass die Staatsanwaltschaft in den Überlebenden nicht mehr nur Opfer sieht. Heute bestätigt die Behörde: „Wir ermitteln gegen alle Personen, die an der Abfahrt abseits der Piste teilgenommen haben, wobei noch festgestellt werden muss, wer eine ausschlaggebende Rolle eingenommen hat.“ Noch sei nicht abschließend geklärt, „ob zulasten der beschuldigten Personen Merkmale von Nachlässigkeit, Unvorsichtigkeit beziehungsweise Untüchtigkeit zu erkennen“ seien.

„Auslösen einer Lawine“ ist in Italien ein Straftatbestand

Anders als in Deutschland gibt es in Italien den Straftatbestand „Auslösen einer Lawine“. Als die Gruppe die Piste verließ, galt Lawinenwarnstufe 3 von 5, was einer „erheblichen Gefährdung“ entspricht. Die Fahrt durch den Tiefschnee war zwar nicht verboten, aber wer eine Lawine lostritt, muss dafür geradestehen. Wenn Menschen ums Leben kommen, kommt ein weiterer Anklagepunkt hinzu: fahrlässige Tötung. Erst kürzlich wurde ein Bergführer in Italien deswegen zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Sollte die Staatsanwaltschaft zu dem Ergebnis kommen, dass auch die Ludwigsburger die Lawine selbst verschuldet haben, muss sie Anklage erheben. Weil es um fahrlässige Tötung geht, könnte Italien von Deutschland verlangen, dass die Beschuldigten ausgeliefert werden – falls sie nicht zum Prozess erscheinen. „Wenn jemandem ein fahrlässiges Verhalten nachgewiesen wird, kann man daraus einen Tatvorwurf konstruieren“, erklärt die Stuttgarter Rechtsanwältin Elif Kanat. Das gelte in Italien ebenso wie in Deutschland.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer

Einige Beobachter gehen davon aus, dass es so kommen wird. Anfang Dezember schrieb eine Boulevardzeitung in Tirol, dass die „bisherigen Ermittlungen ergeben haben, dass die Todeslawine aller Voraussicht nach von den Teilnehmern der Skitour ausgelöst wurde“. Stutzig macht allerdings, dass die Zeitung keine Quelle für diese Einschätzung nennt.

Zumal es Zweifel an dieser Version gibt. Ein Lawinenexperte der seriösen italienischen Nachrichtenagentur Ansa sagte bereits vor Monaten, dass er überzeugt sei, dass die Ermittlungen im Sand verlaufen. Der Journalist hat nach dem 3. Januar mit mehreren Bergrettern vor Ort gesprochen. Sein Fazit: Weil das Schneebrett 500 Meter oberhalb der Skifahrer abgerissen sei, sei es extrem unwahrscheinlich, dass die Ludwigsburger für das Unglück verantwortlich sind. Er gehe davon aus, dass es sich um eine Spontanlawine handelte. Die Staatsanwaltschaft versucht derweil immer noch, den exakten Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren. Dass ein Jahr ohne Anklage verstrichen ist, deutet zumindest darauf hin, dass die Ermittler sich schwertun, Beweise für fahrlässiges Verhalten zu finden.