Waltraud Schulze scheut keine Extrembedingungen – weder bei der Erforschung der Acker-Schmalwand noch als Abenteurerin auf Weltreise. Der Gips-Schüle-Preis eröffnet der Hohenheimer Lehrstuhlinhaberin ganz neue Spielräume.

Stuttgart - Dass sie gern unterwegs ist, davon künden die buddhistischen Gebetsfähnchen aus Tibet, ihr Fat Bike im Wüstensand als Bildschirmschoner, ein Chinesisch-Zertifikat und der Jägerbrief an der Wand und Schlafsack und Isomatte im Regal gleich unter der Fachliteratur. Es ist klar ersichtlich: In ihrem Büro an der Uni Hohenheim will Waltraud Schulze nicht Hof halten, sondern sie braucht einen guten Ort zum Nachdenken und Arbeiten. Und Inspiration für ihre Forschung holt sich die Professorin für Pflanzenphysiologie keineswegs nur aus Büchern, sondern auch bei ihren Expeditionen. Wer wie sie die Erstbesteigung des 6430 Meter hohen Tagschagpuri in Tibet hinter sich hat, den sibirischen Winter bei minus 55 Grad erlebt oder bei minus 40 Grad den Baikalsee und bei plus 53 Grad Australien beradelt hat, der weiß, dass Lebewesen auch bei Extrembedingungen ziemlich anpassungsfähig sind. Nicht nur Menschen, sondern auch Pflanzen, die dem Klimawandel trotzen. Waltraud Schulze will verstehen, wie das funktioniert. Und zwar am Beispiel einer kleinen, unscheinbaren Modellpflanze: der Acker-Schmalwand.

 

Preisgeld bringt der Wissenschaftlerin Freiraum für die Forschung

Seit knapp sechs Jahren ist die 44-Jährige Inhaberin des damals neu gegründeten Lehrstuhls Systembiologie der Pflanzen. Nun hat sie von der Gips-Schüle-Stiftung 150 000 Euro Preisgeld erhalten. Das soll ihr für ein Jahr den Freiraum verschaffen, um große Forschungsprojekte vorzubereiten. Dabei konzentriert sich ihre Arbeit auf die Acker-Schmalwand. Das einjährige Kraut oder eher Unkraut wächst an armen Standorten, zum Beispiel in den Ritzen von Plattenwegen. Ein Überlebenskünstler. „Der Schwerpunkt meiner Forschung ist, molekular zu verstehen, wie Pflanzen auf äußere Reize reagieren“, erklärt die Professorin. „Wir versuchen, Rezeptoren zu identifizieren, die auf Nährstoffe reagieren.“ Denn die Wurzelarchitektur verändere sich mit der Nährstoffsituation. Nebenan, im Labor, stehen zig Exemplare der Acker-Schmalwand in kleinen Töpfchen. „Sie hat den Vorteil, dass sie ein kleines Genom mit nur fünf Chromosomen hat“, sagt Schulze.

Zu ihrem Forscherteam gehören nicht nur zwei Postdocs, vier Doktoranden, einige Studierende und eine Sekretärin, sondern auch eine Programmiererin. Denn, so Schulze: „Wir führen Arbeiten durch, die auch Bioinformatik enthalten, und wir generieren sehr große Datensätze.“ Und das alles, um herauszufinden, „wie Pflanzen ihre Umwelt wahrnehmen und wie sie mit klimatischen Extremereignissen umgehen“. Mal Hitze und Trockenheit, mal Regen und Staunässe, mal Kälte. „Wir möchten verstehen, welche Stoffwechselereignisse wichtig sind, um solche Extremereignisse auszuhalten – und welche genetische Ausstattung dafür optimal ist“, erklärt die Forscherin.

Waltraud Schulze plant einen Realitätscheck mit Mais

Aber dabei reichen ihr die Ergebnisse aus dem Labor natürlich nicht. Zusammen mit Kollegen aus der Agrarfakultät plane sie deshalb einen „Realitätscheck“ mit Mais, die als Kulturpflanze deutlich komplexere Strukturen habe als die Acker-Schmalwand. Schulze will „sehen, wie allgemeingültig die Erkenntnisse sind, die wir aus unserer Modellpflanze gewonnen haben“.

Das Preisgeld will sie in Personal investieren. „Ich suche jemanden, der mir konkret für diese Projektidee zuarbeiten kann.“ Etwa bei Literaturrecherchen, als Schreibhilfe und zur Entlastung bei der Betreuung von Studierenden im Labor. Für Rektor Stephan Dabbert passt Schulzes Forschungsvorhaben perfekt in die Hohenheimer Forschungslandschaft, wo das Thema Klimawandel interdisziplinär stark verankert ist. In seiner Laudatio lobte er Schulzes „innovative experimentelle Methoden und Analysetechniken“. Sie bringe dabei auch Aspekte zur Geltung, die bisher nicht im Fokus standen und habe „ein gutes Gespür dafür, an den richtigen Stellen aktiv zu sein und Dinge anzupacken“.

Hätte sie keine Professur bekommen, wäre sie Abenteurerin geworden

Um diese Fähigkeit zu entwickeln, scheinen Schulzes Expeditionen ein gutes Trainingsfeld zu sein. „Auf meinen Touren speichere ich alles ab – was nicht klappt, analysiere ich.“ Was sie dabei treibt? „Neugier“, ruft sie. „Ich will wissen, wie die Dinge funktionieren.“ Das gilt für ihre fünf Fahrräder und ihre Yamaha 600 XT ebenso wie für die Acker-Schmalwand. Die Strategie sei immer die gleiche: „Was will ich? Was kann ich? Welche Methode verwende ich? Welche Alternativstrategien habe ich? Was sind die geeigneten Rahmenbedingungen?“ Hätte sie keine Professur bekommen, würde sie sich als professionelle Abenteurerin versuchen, über Wasser halten, räumt sie ein. „Am Ende geht’s darum, Unbekanntes zu entdecken und zu sehen, was hinterm Horizont ist.“