Der Rücktritt von Martin Schulz als SPD-Parteivorsitzender könnte es der SPD-Basis leichter machen, den Weg in die große Koaltion mit zu tragen.

Berlin - Es ist vorbei. Tatsächlich. 136 Tage nach der Bundestagswahl wollen drei Parteien wirklich regieren und gestalten. Gemeinsam. Als Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz am Dienstagnachmittag in der CDU-Parteizentrale vor die Presse treten, ist ihren Blicken, ihren Gesten, ihrem ganzen müden, aber irgendwie doch erleichterten Auftreten anzumerken, welcher Kraftakt hinter ihnen liegt. Und dass schiere Erschöpfung nicht das schwächste Argument gewesen ist, nun doch endlich abzuschließen. Aber so sagt das natürlich niemand. Stattdessen ist noch einmal die ganz hohe Schule rhetorischer Verzierungskunst gefragt.

 

Also spricht die Kanzlerin von „neuer Dynamik“ für Deutschland, von einem „Arbeitsplan, der das Leben in Deutschland verbessert“, und von der gehaltenen Balance zwischen „Erwirtschaften und gerechter Verteilung“. Also zeigt sich Horst Seehofer „hochzufrieden“ und lobt „eine ganze Menge Gutes“, das im Koalitionsvertrag stecke. Und Martin Schulz will gar nicht mehr aufhören mit seiner Aufzählung, was alles am neuen Kontrakt „sozialdemokratische Handschrift“ trage und welcher „Aufbruch“ in den Vereinbarungen stecke.

Drei Gezeichnete stehen auf dem Podium

Das sind große Worte. Man mag ihnen mit routinierter Skepsis begegnen. Aber die kommenden Koalitionäre können immerhin ihre Lobeshymnen mit einigen Sachargumenten unterlegen. Pflege, Digitalisierung, Bildungspakt, eine neue Europapolitik – einige Zukunftsthemen werden ja durchaus angepackt. Aber all die Argumente, Erklärungen, auch die Beschönigungen und Übertreibungen können die Verwundungen doch nicht überdecken. Da stehen drei Gezeichnete auf dem Podium und strahlen in eingeübter Spontaneität.

Angela Merkel hatte auf dem quälend langen Weg zur neuen Regierung ihrem Ruf als führungsstarke Parteichefin nicht gerecht werden können. Horst Seehofer hatte nach der für die CSU desaströsen Bundestagswahl angekündigt, das Ministerpräsidentenamt aufzugeben. Und Martin Schulz will zeitnah den SPD-Vorsitz an den Nagel hängen. Sie alle haben äußerst knapp politisch überlebt – vorbehaltlich der guten Laune der SPD-Basis.

Für Martin Schulz bedeutet der Tag, da sich die SPD-Führungsriege zum neuen Anfang in einer kommenden Regierung bereit findet, ein bitteres Ende. Die Nachwahlwehen kosten ihn den Posten. Da geht es ihm ähnlich wie Horst Seehofer – mit dem er sich, vereint im politischen Schicksal, aufs traute Du verständigt hat. Das ist die zweite große Nachricht des Tages. Wieder einmal tauscht eine ihrer selbst ungewisse SPD ihre Führung aus.

Schulz wirkt ernst und sorgengedrückt

Schulz war als Mister Hundert Prozent gestartet, als Hoffnungsträger, als vermeintlicher Garant der neuen Zeit, von der auf SPD-Parteitagen immer so wirklichkeitsvergessen gesungen wird, dass sie mit den Sozialdemokraten ziehe. Für Augenblicke im Wahljahr tauchte die Vision einer neuen SPD auf, mit neuem Schwung und neuen Machtperspektiven jenseits der Union. Nun landet die Partei wieder in der unionsüberschatteten Düsternis, aus der Schulz sie hinausführen sollte. Da wirkt der Rücktritt ziemlich logisch. Und für Schulz insofern erträglich, da er sich mit dem Außenamt trösten kann. Aber Freude darüber ist ihm nicht anzusehen. Tiefernst wirkt er, als er den Aufbruch in die neue alte Koalition mit verkündet, manchmal grau, und der Gesichtsausdruck ist sorgengedrückt. So sehen keine Sieger aus.

Er ist auch keiner. Die SPD hat inhaltlich nicht besonders viel herausgeholt in den Gesprächen mit der Union. Die Bürgerversicherung bleibt eine ferne Aussicht. Die sachgrundlosen Befristungen? Bleiben weiter möglich, wenn auch eingeschränkt. Familiennachzug für die Angehörigen von Bürgerkriegsflüchtlingen? Ja, für 1000 Personen pro Monat. Diese wenig überzeugende Bilanz war der Grund dafür, dass die Sozialdemokraten beim Tauziehen um die Ressortverteilung blendend abschneiden konnten. Angela Merkel hatte erkannt: Da musste sie geben. Außen-, Finanz- und Arbeitsministerium gehen an die SPD. Leicht ist Merkel das nicht gefallen. Deshalb hatte es bis zuletzt Spitz auf Knopf gestanden. Es hätte scheitern können. Leicht sogar. Am Montagabend um 22 Uhr droht das Aus. Die erweiterte SPD-Führung rückt geschlossen im Adenauer-Haus an, während sich viele Unionsgrößen demonstrativ die Beine vertreten. Seit dem frühen Morgen wurde schon gerungen.

Karl Lauterbach, der stets um Zuspitzung bemühte SPD-Gesundheitsexperte, spricht nun bedeutungsschwer von „Endberatungen“. Bricht die SPD die Gespräche ab? Boris Pistorius, der SPD-Innenpolitiker, gibt schließlich Entwarnung. „Es stockt, aber es geht weiter“, lautet sein dialektischer Kommentar. Tatsächlich aber scheint man ziemlich ratlos.

Eine SPD-Sprecherin sieht sich genötigt, zu der bis spät in die Nacht ausharrenden Presse zu kommen. Sie will die Gerüchte zerstreuen. Niemand habe an Abbruch gedacht. Aber, wird sie gefragt, habe es denn seit dem Morgen in den großen Knackpunkten Gesundheit und sachgrundlose Befristung irgendwelche Fortschritte gegeben? Die Sprecherin schweigt.

„Es stockt, aber es geht weiter“

Vielleicht ist dann irgendwann in den Morgenstunden zum Dienstag den Verhandlern der Schreck in die Glieder gefahren. Die Nachrichten von internationalen Finanzmärkten sind weiter beunruhigend. Ist das wichtig für die Unterhändler? Durchaus. Es macht deutlich, dass die Zeit nicht endlos ist, in der es vermeintlich ganz ohne Regierung geht oder nur mit einer geschäftsführenden: weil die Wirtschaft doch so herrlich brummt, dass jede neue Koalition nur eine Bedrohung für ein störungsfreies Weiter-so wäre. Das Land kann eben doch nicht immer weiter so vor sich hin treiben.

Die beiden letzten Sachthemen

Die Kanzlerin spürt das. „Wir dürfen das Zentrale nicht aus den Augen verlieren“, hatte sie schon am Montag zum Auftakt der langen Nachverhandlungen gesagt. „Wir leben in unruhigen Zeiten.“ Es sei die Erwartung sowohl an die Union als auch an die SPD, dass sie nun eine stabile Regierung bildeten, die Verlässlichkeit biete sowie Sicherheit und Wohlstand. Konrad Adenauer, der in der CDU-Parteizentrale von vielen Wänden lächelt, hätte zufrieden genickt.

Nur ist die SPD eben noch nicht zufrieden. An zwei Punkten haben sich die Unterhändler verhakt. „Bei der sachgrundlosen Befristung und der Gesundheitspolitik“ müsse die Union der SPD noch entgegenkommen, hieß es mantragleich bei der SPD. Das sind die letzten großen Sachthemen. Alles andere ist durch verhandelt. Aber als am Dienstag die Sonne aufgeht, sind die beiden Punkte immer noch offen.

Kein Unionslager will sich zuerst bewegen

Es ist ein seltsames Bündel an Fragen, das da zuletzt auf dem Tisch liegt. Wer will, kann da eine gewisse Ironie erkennen. Seit der Bundestagswahl hatte die zerrissene Lage der SPD die Regierungsbildung verkompliziert. Nun aber, auf den buchstäblich letzten Metern, sind es Gegensätze innerhalb der Union, die alles schwierig machen. Deren Gesundheitspolitikern ist das Thema sachgrundlose Befristung, die die SPD drastisch einschränken möchte, herzlich egal. Da gebe es durchaus Wildwuchs.

Wenn die Union da den Sozialdemokraten etwas gibt, so das Kalkül, werden Kompromisse in Fragen der Gesundheit viel leichter. Die Wirtschaftspolitiker haben dagegen die Kanzlerin bis zuletzt bestürmt, der Industrie keine Möglichkeiten zu nehmen, flexibel auf Auftragslagen reagieren zu können. Viel leichter sei es doch, die Gebührenordnungen für die privat und gesetzlich Versicherten anzugleichen, worauf die SPD dringt. Schließlich sei die andauernde Ungleichbehandlung doch tatsächlich ein Ärgernis. Kein Unionslager will sich zuerst bewegen.

Es ist ohnehin nicht so weit her gewesen mit der Kompromissbereitschaft bei den Schwarzen. Die SPD-Führung hatte das zu spüren bekommen beim knappen Vor-Parteitagsvotum nach den Sondierungen. Die Bayern haben im Herbst eine Landtagswahl vor der Brust, und die Merkel-CDU will sich nicht noch mehr Sozialdemokratisierung vorwerfen lassen. Also erzählen sie lieber die Geschichte von Genossen, die nicht mehr Seit an Seit mit ihrem Parteichef marschieren. „Unsere Leute“, meint einer aus der Unionsriege, „haben ein besseres Verhältnis zu Schulz als seine eigenen Parteifreunde.“

Alle sind mürbe

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass alle ziemlich durch sind. An den meisten Nachwahltagen saßen die Unterhändler von CDU und CSU an Verhandlungstischen – erst untereinander, um ihren Flüchtlingsobergrenzenstreit zu befrieden, dann mit grünen und liberalen Jamaikanern, schließlich mit der SPD. Wie „in einer Zeitschleife gefangen“ fühlt sich die stellvertretende CSU-Vorsitzende Dorothee Bär. Es ist nicht schön, Politiker anderer Parteien öfter zu sehen als die eigenen Kinder.

Aber am meisten hat es viele frustriert, dass sie gar nicht wussten, ob sie gerade die Zukunft Deutschlands und Europas gestalten, wie ein Mitglied des Unionsverhandlungsteams erzählt, „oder ob wir wegen der Kevin Kühnerts dieser Welt nur für die Tonne produzieren“. Kühnert, der Juso-Chef, führt die SPD-interne Kampagne für ein Nein zum Koalitionsvertrag an.

Am Ende hat dann das allerletzte Thema Spielraum geschaffen – das Personal. Da hat die CDU wirklich gegeben. Sie stellt weiter die Kanzlerin. Da lässt sich viel ertragen. Ein sozialdemokratischer Finanzminister zum Beispiel. Oder gar Horst Seehofer als Innenminister.

Reicht das alles der SPD-Basis?

Aber reicht das? Die letzte Akt des Dramas steht ja noch aus. Martin Schulz mag seit Längerem gefühlt haben, dass die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen für die SPD-Basis keine eindeutige Sprache sprechen. Er räumt den SPD-Vorsitz und schafft damit wenigstens einen Mini-Aufbruch. Und außerdem würde nun ein Nein der SPD-Mitglieder zum Groko-Vertrag gleich die neue Chefin Andrea Nahles erheblich beschädigen. Vielleicht ist dies das stärkste Argument, dass es tatsächlich zur großen Koalition kommen wird.