Einfach würden die Verhandlungen zwischen SPD und Union sicher nicht, denn die Sozialdemokraten brauchen Erfolge. Dennoch sollten die Gespräche jedenfalls nicht schwieriger werden als die gescheiterten Jamaika-Sondierungen.

Berlin - Und alles auf Null. Wenn Union und SPD demnächst über ein neues Regierungsprogramm beraten sollten, hätten sie schwierige Konflikte zu lösen. Das wäre zwar schwer, aber durchaus möglich. Wir analysieren die wichtigsten Themen:

 

Gesundheit/Pflege

Das Thema dürfte sich zu einem der schwierigsten Konfliktpunkte in möglichen Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD entwickeln. Die SPD-Führung bräuchte symbolträchtige Siege, um ihre skeptische Basis zu überzeugen. Da bietet sich die Bürgerversicherung – scheinbar – an. Der Kampf gegen die Trennung in Private und Gesetzlich Krankenversicherung (PKV und GKV) gehört seit langer Zeit zum Arsenal sozialdemokratischer Rhetorik und Programmatik. Es verwundert also nicht, dass der Fraktionsvize der SPD im Bundestag, Karl Lauterbach, die Bürgerversicherung „mit einem gemeinsamen Versicherungsmarkt ohne Zwei-Klassen-Medizin“ nun zu einem „zentralen Anliegen“ seiner Partei erklärt. Auffallend ist aber, dass im Bundestagswahlkampf das Thema bei der SPD eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte.

Das hat gute Gründe. Tatsächlich wissen die Gesundheitsexperten der SPD auch, dass die Umstellung des jetzigen Systems mit einer ganzen Reihe schwieriger Fragen verbunden wäre. Zum Beispiel: Was geschieht mit den Beamten – würden sie ein Wahlrecht erhalten? Was geschieht mit den Rückstellungen der privat Versicherten? Welches Risiko besteht für die 68 000 Arbeitsplätze in der PKV? Vor allem aber wissen auch die Sozialdemokraten, dass ein rascher Systemwechsel die GKV auf den falschen Fuß erwischen könnte, weil ihr durchaus nicht damit gedient wäre, wenn vor allem ältere Menschen, die unter höheren Prämien in der PKV leiden, nun alle in die GKV wechseln würden. Dies bedeutete versicherungstechnisch schlicht einen kostspieligen Zulauf schlechter Risiken.

Möglicherweise eröffnet dieses Unbehagen, das es auch bei den prinzipiellen Befürwortern einer Bürgerversicherung gibt, die Möglichkeit zu Kompromissen. Die wären durchaus möglich. So plädiert der CDU-Gesundheitsexperte Michael Hennrich dafür, bei der ambulanten Versorgung zu einem für GKV- und PKV-Patienten einheitlichen Gebührensystem zu kommen. Durch die Angleichung fielen etwa für niedergelassene Ärzte Anreize weg, Privatpatienten schneller zu behandeln. Damit würde ein Hauptärgernis des jetzigen Systems beseitigt. Die SPD könnte für sich in Anspruch nehmen, dadurch die von ihr behauptete „Zwei-Klassen-Medizin“ überwunden zu haben. Verhandlungssache wäre auch die Beitragspflichtigkeit aller Einkunftsarten, wie sie von der SPD gefordert wird. Auch hier sollten Einigungen möglich sein.

Die von den Jamaika-Verhandlern gefundenen Kompromisse in der Pflege dürften auch für Union und SPD akzeptabel sein. Eine Werbe-Offensive für mehr Pflegepersonal, Anreize für eine Rückkehr von Teil- in Vollzeit, verbesserte Personalschlüssel und im Krankenhausbereich eine vollständige Refinanzierung von Tarifsteigerungen im Pflegebereich – dem könnte sich die SPD anschließen.

Arbeit/Rente

Zwei offensichtliche Streitpunkte zeichnen sich ab. In der Rentenpolitik sehen zwar beide Seiten Handlungsbedarf, allerdings zu völlig unterschiedlichen Zeitpunkten. Die SPD will in dieser Legislaturperiode aktiv werden, damit das gesetzlich festgelegte Rentenniveau die „Haltelinie“ von 48 Prozent des früheren Einkommens abzüglich der Sozialabgaben, aber vor Steuern nicht unterschreitet. Außerdem preist es die Partei als neuen Generationenvertrag an, dass der Beitragssatz der Arbeitnehmer bis dahin die Marke von 22 Prozent nicht überschreiten soll – aktuell liegt er bei etwas über 18 Prozent. Was zusätzlich an Kosten für die Rente fällig wird, soll nach dem Willen der SPD über Steuerzuschüsse finanziert werden. Die Union will die Zukunftsfähigkeit des Rentensystems dagegen in einer Expertenkommission besprechen, die Reformvorschläge für spätere Jahre machen soll. Sie hat sich in den Jamaika-Gesprächen allerdings durchaus willens gezeigt, in einzelnen Punkten bereits jetzt tätig zu werden – etwa bei der Erwerbsminderungsrente. Im Grundsatz befürworten die drei Groko-Parteien CDU, CSU und SPD auch eine gesetzliche Garantie, aus einer Teilzeitstelle wieder in eine Vollzeitstelle zurückkehren zu können – dies war sogar schon Teil ihres Koalitionsvertrags für die Jahre 2013 bis 2017. Das Projekt endete jedoch im Streit, weil es unterschiedliche Vorstellungen darüber gab, ab welcher Betriebsgröße das neue Recht gelten sollte. Weil die Union es auf größere Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern beschränken wollte, hat es für die SPD eine hohe Symbolkraft.

Steuern/Finanzen

Wenn es ums Geld geht, wird auch bei möglichen Groko-Verhandlungen ganz sicher der Spaß aufhören. Die SPD will den Solidaritätszuschlag in zwei Stufen abschaffen. Erst soll für untere und mittlere Einkommen 2020 der Soli abgeschafft werden, dann, in einem Zeitraum von zwei bis vier Jahren, allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen, für alle Einkommensgruppen. In dieser Frage könnte es ohne größere Schwierigkeiten auf das Kompromissangebot der Union an die Adresse der FDP hinauslaufen, das zehn bis zwölf Milliarden bis 2021 und einen Abbaupfad bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts vorsah. Knifflig wird die Sache bei der Einkommensteuer. Denn hier will die SPD zur Finanzierung milliardenschwerer Investitionen in Bildung und Infrastruktur die Spitzenverdiener stärker als bisher belasten. Zwar soll der Grenzwert, ab dem der Spitzensteuersatz fällig wird, auf 76200 Euro angehoben werden, zugleich will die SPD die Maximalbelastung von 42 auf 45 Prozent anheben. Die Union will hingegen alle Einkommensgruppen um insgesamt 15 Milliarden Euro entlasten. Heilig ist ihr bei all dem die „schwarze Null“, also der ausgeglichene Haushalt. Die Genossen dürften damit kein Problem haben, solange die Investitionen in Zukunftsbereiche nicht darunter leiden – angesichts eines in den Jamaika-Gesprächen publik gewordenen finanziellen Spielraums von fast 60 Milliarden Euro über vier Jahre sollte das möglich sein. Spannender noch dürften die Gespräche über die Vermeidung von Steuerdumping in der EU werden. Auch in diesem Punkt müsste die SPD ihren Mitgliedern unbedingt Erfolge vorweisen.

Zuwanderung

Wenn die Union hier mit den Grünen einen Konsens für greifbar hielt, wird dies mit der SPD erst recht zu erreichen sein. Die Innenpolitiker der Union würden sich über eine große Koalition freuen. Die Union müsste sicher in ein Einwanderungsgesetz einwilligen, dass Zuwanderung von ausgesuchten Fachkräften nach einem Punktsystem ermöglicht. Dies stand aber auch schon bei den Jamaika-Verhandlungen vor der Einigung. Die SPD würde sich wohl beweglich zeigen, was die weitere Ausweisung sicherer Drittstaaten angeht. Dazu zählten nicht nur die Maghreb-Staaten. Verhandelbar wäre auch die generelle Ausweitung auf Herkunftsstaaten mit einer Asyl-Anerkennungsquote von unter fünf Prozent. Das bei Jamaika so umstrittene Thema Familiennachzug für subsidiär Geschützte bietet bei weniger ideologisch aufgeladener Debatte Spielraum für Kompromisse. Das gilt auch für die Begrenzung auf 200 000 Zuwanderer pro Jahr, wenn damit keine starre Limitierung gemeint ist, sondern tatsächlich eine Richtgröße, die vom Bundestag gegebenenfalls angepasst werden könnte.

Fazit: An diesem Themenbereich würde eine große Koalition nicht scheitern.

Bildung

Die SPD hat einen starken Schwerpunkt beim Thema Bildung im Wahlkampf gesetzt. Die zentrale Forderung lautet, Bildung von der Kita bis zum Studium gebührenfrei anzubieten. Die Bildungsinitiative soll ausdrücklich auch die Berufsschulen umfassen. Der Bund soll den Ländern und Kommunen finanziell unter die Arme greifen, um Lehrer einstellen, Schulen sanieren und moderne, digitale Lehrmittel beschaffen zu können. Zum SPD-Programm zählt auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Die Grundfinanzierung der Hochschulen soll angehoben und das Bafög aufgebessert werden. In den meisten Fragen dürfte eine Einigung mit der Union nicht allzu schwer fallen, denn auch CDU und CSU sind sich darüber im Klaren, dass der Unmut im Land über den Zustand des Bildungssystems groß ist. In einem Punkt würden Verhandlungen jedoch mit harten Bandagen geführt. Denn die SPD will unbedingt das Kooperationsverbot abschaffen, das es dem Bund untersagt, sich dauerhaft an der Finanzierung bestimmter Bildungsangebote zu beteiligen. Vor allem die CSU hat in dieser Frage schon in den Verhandlungen mit Grünen und FDP Beton angerührt. Allerdings zeigte sich CSU-Chef Horst Seehofer bereit, nach anderen Wegen zu suchen, um die Finanzierungsströme bei der Bildung neu zu ordnen. Alles unterhalb der Schwelle einer offiziellen Abschaffung sei möglich, hieß es hierzu.

Europa

Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel das am Montag auf eine entsprechende Frage hin so nicht sagen wollte: Die SPD steht ihr in der Europapolitik deutlich näher als die FDP, die mehr europäische Zusammenarbeit auf die Bereiche Asyl und Sicherheit beschränken und jede weitere finanzpolitische Integration verhindern wollte. Das sozialdemokratische Wahlprogramm dagegen liest sich fast wie eine deutsche Kopie der Vorstellungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Mit einem europäischen Investitionsprogramm, mehr Geld für den Kampf gegen die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit, flexibel ausgelegten Maastrichter Schuldenregeln, Maßnahmen gegen die Steuerflucht von Unternehmen und einer Finanztransaktionssteuer soll die soziale Spaltung in Europa überwunden werden. Aufgeschlossen sind die Genossen auch für „ein gemeinsames Finanzbudget“, für die Länder der Eurozone, das Macron anfangs gefordert, Merkel in den Jamaika-Gesprächen – wiederum unter Verweis auf Macron – zwischenzeitlich aber abgeräumt hatte. Ein Instrument zur Abfederung ökonomischer Schocks, die CDU kann sich dafür den Krisenfonds ESM vorstellen, spielte im europapolitischen Teil der Sondierungsgespräche dennoch die zentrale Rolle. „Es ermöglicht Investitionsimpulse und wirkt zugleich stabilisierend als Ausgleichsmechanismus bei Krisen“, heißt es im SPD-Wahlprogramm. Viele in der Union werden so weit nicht gehen wollen, dennoch ist die Nähe zu „Mehr Europa“ à la SPD größer als zu „Nicht mehr Europa“ à la FDP. Hinter den Kulissen wird schon diskutiert, ob aus diesem Grund vielleicht sogar schon Deutschlands geschäftsführende große Koalition eine Antwort auf Macron geben könne.

Klimapolitik

In der Union keimt da und dort die Hoffnung, mit den Sozialdemokraten ließen sich womöglich weichere Klima-Vereinbarungen treffen als mit den Grünen, weil die SPD industriepolitischen Rücksichtnahmen aufgeschlossener gegenüber stünde. Das mag tatsächlich so sein. Allerdings gibt es auch in der Union wichtige Stimmen, die darauf beharren, dass die bei den Jamaika-Gesprächen erreichten Positionen nicht wieder zurückgedreht werden sollen. So sagte Andreas Jung, der Chef der baden-württembergischen CDU-Landesgruppe im Bundestag, unserer Zeitung: „Beim Klimaschutz darf es kein Zurück geben hinter dem, was die Union in den Jamaika-Sondierungen angeboten hat.“ Schließlich seien die deutschen Ziele „keine grünen Ziele“. Das Ziel den CO/2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu vermindern, „wurde von Schwarz-Gelb beschlossen und von der Großen Koalition weitergeführt“. Die Union habe sich immer dazu bekannt. Es sei aber „unstreitig“, dass dieses Ziel ohne Zusatz-Maßnahmen nicht erreicht werde. „Ohne einen erheblichen Rückgang bei der Braunkohle-Verstromung“ werde es nicht gehen.

Die Union hatte in den Sondierungen den Abbau von 7 Gigawatt bei der Kohleverstromung bis 2020 angeboten. Ob die SPD sich mit weniger begnügen würde, ist eine noch offene Frage. Ein Stolperstein für eine künftige Koalition läge hier aber nicht.