Am Schreibtisch in Tübingen untersuchte der Menschenkundler Hans Fleichhacker die Handabdrücke von 309 Jüdinnen und Juden – alle waren im Ghetto ermordet worden.

Tübingen - Keiner spricht ein lautes Wort in diesem Raum – zu bedrückend ist das Schicksal dieser Opfer der Wissenschaft. Deutsche Rassenanthropologen haben Hunderten von Juden 1940 im Ghetto Litzmannstadt (Łódz) Handabdrücke genommen. „Die Menschen sind kurz darauf im Holocaust zu Tode gekommen“, sagt der Tübinger Ethik-Professor Urban Wiesing. Der Titel der Ausstellung auf dem Schloss Hohentübingen: „In Fleischhackers Händen. Tübinger Rassenforscher in Łódzź 1940–1942“. Wiesing empört sich über den  Schriftzug „Behördeneigentum“: Dieses Wasserzeichen wurde jetzt erkannt, als die Originalblätter mit Handabdrücken von 309 Jüdinnen und Juden für die Ausstellung mit LED-Licht beleuchtet wurden.

 

1943 dienten diese Abdrücke dem Tübinger Menschenkundler Hans Fleischhacker (1912–1992) als Grundlage seiner Habilitationsarbeit. Der SS-Obersturmbannführer war damals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Tübinger Rassenbiologischen Institut. Ziel von Fleischhackers Arbeit mit dem Titel „Das Hautleistensystem auf Fingerbeeren und Hautleisten der Juden“ war, eine Sonderstellung von Juden anhand ihrer Handlinien nachzuweisen. Er sah durch seine Erkenntnisse eine „rassische Sonderstellung“ der Juden innerhalb der „Gesamtmenschheit“ als klar erwiesen an.

Laut Wiesing wollte Fleischhacker „wissenschaftlich ordnen, um dann präziser vernichten zu können“. Es gebe keinen Zweifel, dass dieser ganz ohne Zwang forschende Mann vom Holocaust gewusst hat, zumal er zehn Tage lang das KZ Auschwitz besuchte. „Er wollte neutrale wissenschaftliche Methoden für den Völkermord nutzen“, sagt der Professor vom Uni-Institut für Ethik und Geschichte der Medizin.

Handabdrücke 2009 beim Ausmisten entdeckt

Hans Fleischhacker wurde wegen seiner Arbeit nie zur Rechenschaft gezogen. Vielmehr hat er nach dem Krieg als Wissenschaftler weitergearbeitet und hat auch diese Schrift veröffentlicht. „Dazu musste er nur verdächtige Worte wie zum Beispiel ,Judenmaterial‘ aus dem Vokabular seines Texts streichen“, sagt Wiesing.

Der Professor berichtet davon, dass ein Institut in Tübingen beim Ausmisten vor einem Umzug in einer Kiste die Blätter mit den Handabdrücken entdeckt habe. Der Historiker und Journalist Hans-Joachim Lang stellt die Frage, warum diese Abdrücke erst 2009 auftauchten. Schließlich hätte man die Sammlung des Instituts schon bei anderen Anlässen wie beispielsweise einer Ringvorlesung zum Thema Uni und Nationalsozialismus 1989 nach solchen Dokumenten durchsuchen können. „Das ist versäumt worden“, sagt Lang. Offenbar habe die Uni in jenen Jahren kein Interesse an dem Thema gehabt. Fleischhackers Schrift war in der Universität nicht auffindbar gewesen. Ein Bürstenabzug der Habilitationsschrift wurde erst vor Kurzem in der Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Wien entdeckt, sie ist in Tübingen zu sehen.

Uni besinnt sich der Nazi-Vergangenheit

Sollte Langs These stimmen, dann hat sich die Haltung der Universität zum Umgang mit dem Nationalsozialismus gewandelt. Aus Anlass des Kriegsendes vor 70 Jahren gibt die Uni 2015 erstmals einen umfassenden Überblick über ihre Geschichte während der NS-Zeit. „Es ist unser Jahresthema“, erklärt Professor Ernst Seidl, der Leiter des Museums der Uni Tübingen. Seidl nennt drei weitere Ausstellungen: „Forschung – Lehre – Unrecht“ wird sich vom 21. Mai an mit der Institution Universität im Nationalsozialismus befassen. Es soll dabei auch um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Uni seit 1945 gehen. Einem Alumnus der Universität ist die Ausstellung „Fritz Bauer – Der Staatsanwalt“ gewidmet, die vom 8. Mai an im Landgericht Tübingen zu sehen ist. Bauer war als hessischer Generalstaatsanwalt in den 50er und 60er Jahren treibende Kraft bei der juristischen Aufarbeitung des Holocausts. Die Ausstellung „Hans Bayer/Thaddäus Troll“ widmet sich vom 29. Oktober an dem Lebensweg des Schriftstellers, der in Tübingen studierte.