Unnötige Operationen bei Augenärzten Die Nöte der Justiz mit den Augenärzten
Haben Mediziner ihren Patienten aus Geldgründen nicht notwendige Operationen aufgedrängt? In Stuttgart wird seit Jahren ermittelt. Kommt es jetzt zur Anklage?
Haben Mediziner ihren Patienten aus Geldgründen nicht notwendige Operationen aufgedrängt? In Stuttgart wird seit Jahren ermittelt. Kommt es jetzt zur Anklage?
Stuttgart - Es muss schon viel passieren, bis Ärzte einen Standeskollegen bei der Staatsanwaltschaft melden; ein solcher Schritt fällt niemandem leicht. Für die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Bremen aber war das Maß 2017 voll. Sie erstattete Strafanzeige gegen einen Augenarzt wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug und Körperverletzung. Hintergrund seien Hinweise von Kollegen und Patienten, „die wir als plausibel und seriös eingestuft haben“. Der Verdacht: Nicht aus medizinischen, sondern aus ökonomischen Gründen habe der Arzt zu Operationen geraten und solche auch vorgenommen – etwa bei Grauem Star.
Die Bremer Staatsanwaltschaft machte sich umgehend an die Arbeit. Man ermittele wegen des Verdachts „medizinisch nicht indizierter Operationen“, die zudem nicht sachgerecht ausgeführt worden seien, sagte ein Sprecher. Lange hörte man nichts mehr von dem Verfahren, auch die KV verlor den Fall aus dem Blick, zumal der Arzt nicht mehr in Bremen tätig sei. Nun aber gibt es ein Ergebnis. Ein Gutachten bestätige den Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung nicht, so die Behörde. Man habe die Ermittlungen daher eingestellt, mangels Tatverdacht.
In Bremen ist der Augenarzt damit aus dem Schneider, in Stuttgart hingegen nicht. Auch dort war er nach seinem Umzug ins Visier der Justiz geraten, wegen des gleichen Vorwurfs. Er ist einer von vier Augenärzten eines süddeutschen Verbunds, gegen die die Staatsanwaltschaft Stuttgart nach wie vor ermittelt. Gefährliche Körperverletzung und schwerer Abrechnungsbetrug lautet der Verdacht, dem die für ganz Württemberg zuständige Schwerpunktabteilung für Wirtschaftskriminalität nachgeht. Auch im Südwesten kam das Verfahren 2017 in Gang, zunächst bei der Staatsanwaltschaft Tübingen. Auslöser waren Strafanzeigen von Patienten, Ärzten und zwei Bezirksärztekammern. Parallel laufen berufsrechtliche Verfahren, die während der strafrechtlichen Aufarbeitung ruhen.
Publik wurden die Ermittlungen Ende 2019 durch Recherchen unserer Zeitung. Damals gab es eine groß angelegte Durchsuchung in Praxen und Privaträumen. Nur des Geldes wegen, so der Verdacht, hätten die Ärzte zu Operationen gedrängt und diese auch durchgeführt, etwa bei Grauem Star oder angeblichen Netzhautschäden; medizinisch seien die Eingriffe nicht oder noch nicht angezeigt gewesen. Ganz anders sahen das die beschuldigten Ärzte. Die Vorwürfe seien „vollumfänglich falsch“, ließen sie ihren Anwalt erklären, man habe ein großes Interesse an „schnellstmöglicher Aufklärung“ und unterstütze die Ermittlungen.
Die Resonanz auf die Razzia war enorm. Reihenweise meldeten sich Patientinnen und Patienten, die von zweifelhaften Erfahrungen mit Augenärzten berichteten. Massiv seien sie zur Operation gedrängt worden, andernfalls drohe die Erblindung. Doch die eingeholte Zweitmeinung ergab ganz anderes. Gefährliche Netzhautschäden? Könne man nicht feststellen. Die Linse müsse wegen der Eintrübung durch Grauen Star dringend ersetzt werden? Das eile nicht, solange das Sehvermögen noch als gut empfunden werde. Auch Augenärzte echauffierten sich über Kollegen, die aus Geldgier den ganzen Berufsstand in Verruf brächten. Ihnen müsse von der Justiz ein- für allemal das Handwerk gelegt werden, feuerten sie die Staatsanwaltschaft an.
Bald zwei Jahre sind seither verstrichen, doch Ergebnisse lassen auf sich warten. „Die Ermittlungen dauern weiter an“, lautet die Standardauskunft. Verläuft das Verfahren, wie jetzt in Bremen, am Ende im Sande? Solche Sorgen kamen bei Betroffenen bereits Ende 2019 auf, als elf Fälle zu den Akten gelegt wurden. Grundlage war eine Klausel in der Strafprozessordnung, die der Effizienz dienen soll: Verfahren können danach eingestellt werden, wenn sie „nicht beträchtlich ins Gewicht“ fallen, weil die Beschuldigten wegen gravierenderer Taten im Visier der Justiz sind. Man solle davon „in einem möglichst frühen Verfahrensstadium Gebrauch machen“, sagt die Behördensprecherin.
Seither konzentrieren sich die Ermittler auf zwanzig Fälle, die sie offenbar für ergiebiger halten. Ihr besonderes Problem beim Grauen Star: Wenn wegen – angeblicher oder tatsächlicher – Trübung eine Kunstlinse eingesetzt wurde, ist die alte Linse nicht mehr vorhanden; sie wurde längst entsorgt. Ein Eingriff ohne medizinischen Grund lässt sich somit nicht mehr belegen. Anders ist das bei Patienten, die dem Rat zur Operation nicht folgten, sondern eine abweichende Zweitmeinung erhielten; dies begründet für die Staatsanwaltschaft den Anfangsverdacht.
Mehrere Betroffene wurden inzwischen von der Justiz angeschrieben: ob sie bereit wären, ihre Augen von einem Gutachter untersuchen zu lassen und gegebenenfalls vor Gericht auszusagen? Das sind sie, einige warten geradezu darauf. Daraus folge aber nicht zwingend eine Anklage, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Es handele sich um „vorbereitende Maßnahmen im Ermittlungsverfahren“, die keine solche Prognose zuließen. Doch je mehr Zeit ins Land geht, umso schwieriger wird womöglich der Nachweis: Das Erinnerungsvermögen der meist älteren Betroffenen lässt nach, auch Augen und Sehkraft verändern sich.
In Stuttgart hat die Staatsanwaltschaft allerdings schon einmal demonstriert, dass man derlei Fälle durchaus zügig aufarbeiten kann. Vor zehn Jahren erließ das Amtsgericht auf ihren Antrag einen Strafbefehl gegen einen Augenarzt. Wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen erhielt er eine Geldstrafe über fünfzig Tagessätze – rund ein Jahr nach den Vorfällen. Der Vorwurf: Er habe bei zwei Patienten eine Glaukom-Behandlung mit dem Laser (Fachbegriff: Iridotomie) vorgenommen, obwohl dafür „erkennbar keine Indikation“ vorlag. Einer der beiden bekam danach so akute Probleme mit dem Augeninnendruck, dass er sich zu einer Notoperation in eine renommierte Augenklinik begeben musste.
Auslöser des Verfahrens war die Strafanzeige einer Augenärztin, die ihre Praxis wenige Monate zuvor an den Kollegen verkauft hatte, dort aber noch eine Weile tätig war. Auch die beiden Geschädigten erstatteten später Anzeige. Alle drei traten als Zeugen auf, ebenso wie eine Arzthelferin, auch ein Sachverständiger war eingeschaltet. Warum aber wurde der Mediziner nur wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, nicht wegen Vorsatz? Man habe keine Anhaltspunkte für bewusste Falschdiagnosen gefunden, hieß es, und daher zugunsten des Beschuldigten Fahrlässigkeit angenommen. Der Strafbefehl wurde ohne Prozess rechtskräftig, somit gab es kein größeres Aufsehen. Ob und wo der Augenarzt, heute in den Fünfzigern, noch praktiziert, wissen die Ermittler nicht.
Die aktuellen Verdachtsfälle hatten auch die Standesorganisationen aufgeschreckt. „Mit großem Bedauern“ konstatierte der Berufsverband der Augenärzte, das Vertrauensverhältnis zwischen Medizinern und Patienten werde dadurch „erheblich und nachhaltig gestört“, und das wohl nicht nur regional. Eile sei bei Grauem Star in der Regel keine geboten, die Beratung dürfe nicht als Drängen empfunden werden.
Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft aktualisiert derzeit ihren Ethikkodex aus dem Jahr 2013. Anlass seien keine Einzelfälle oder Ermittlungen, sagt eine Sprecherin. Man reagiere auf Veränderungen im „Spannungsfeld medizinischer und ökonomischer Rahmenbedingungen“ – etwa mit der Zulassung von Medizinischen Versorgungszentren und der Öffnung des Gesundheitsmarkts für Investoren. Die Neufassung solle in Kürze der Öffentlichkeit vorgelegt werden. Schon der bisherige Kodex nannte indes als „oberstes Ziel“ die bestmögliche Versorgung der Patienten. „Ökonomische Interessen sind diesem Ziel untergeordnet.“
Alle Seiten wären wohl dankbar, wenn es daran keinerlei Zweifel mehr gäbe.