Die Franzosen sind stolz auf ihre Grande Nation. Liberté, égalité, fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – heißen die Säulen, auf denen die Republik ruht. Doch das Fundament zeigt bedrohliche Risse. Wie steht es tatsächlich um Gleichheit und Brüderlichkeit in einem Land, in dem die sozialen Unterschiede seit Jahrzehnten immer größer werden? In dem sich weite Teile der Bevölkerung ignoriert fühlen von der fernen Machtzentrale in Paris? Ein Staat, in dem die Polizei als Feind gesehen wird und sich die Wut der Menschen in immer kürzeren Abständen in Gewalt entlädt?
Auch jetzt erinnern die Bilder aus Frankreich an einen Bürgerkrieg. Auslöser war der Tod des 17-jährigen Nahel durch eine Polizeikugel bei einer Verkehrskontrolle. Seitdem ist es zu Plünderungen, Brandanschlägen und Gewalt zwischen Polizisten und Randalierern gekommen. Jede Nacht wurden mehrere hundert Menschen festgenommen.
Das Entsetzen ist wieder groß
Wieder ist das Entsetzen groß, was vor allem zeigt, wie vergesslich die Gesellschaft geworden ist. Denn die letzten Ausschreitungen sind nur wenige Monate her. Im März musste der britische König Charles III. seinen Besuch in Paris absagen. Damals gab es gewalttätige Ausschreitungen im Land, damals gegen die umstrittene Rentenreform.
Auch 2005 und 2019 gab es Unruhen
Fast schon Geschichte sind die monatelangen Krawalle der „Gilets Jaunes“. 2019 standen sie als Vertreter einer abgehängten Klasse auf den Barrikaden. Ging es anfangs lediglich um Proteste gegen eine Preiserhöhung für Diesel, stellten die „Gelbwesten“ dann aber die Grundfesten der französischen Republik infrage. Völlig verdrängt scheinen die Unruhen des Jahres 2005. Damals schlug nach dem Tod zweier Jugendlicher der Frust vieler Menschen in den Vorstädten Frankreichs über ihre Chancenlosigkeit drei Wochen lang in Gewalt um. An Erklärungsversuchen mangelt es nicht, weshalb es immer wieder und in immer kürzeren Abständen zu solchen Ausbrüchen kommt. Erstaunlich ist allerdings, dass bereits vor 30 Jahren sehr präzise Antworten auf die meisten Fragen gegeben wurden.
Die große Angst vor dem sozialen Abstieg
Ausführlich nachzulesen ist alles bei Pierre Bourdieu. Der im Jahr 2002 verstorbene Soziologe ist bereits Anfang der 1990er Jahre in der französischen Provinz auf Spurensuche gegangen. Am Ende stand das Buch „Das Elend der Welt“, ein Wälzer von fast 1000 Seiten. In jenem Werk aus dem Jahr 1993 wird beschrieben, was die Abgehängten der französischen Gesellschaft immer wieder auf die Straße treibt.
Es ist eine Studie über menschliche Ausgrenzung, sozialen Abstieg, fehlende Zukunftsperspektiven und gescheiterte Integration. In Interviews mit Bourdieu reden frustrierte Lehrer, erschöpfte Schichtarbeiterinnen, überforderte Beamte, perspektivlose Jugendliche und entnervte Bauern über ihre Sorgen. Im Jahr 1995 sorgte dann der Film „Hass“ für Furore. Eine Dokumentation über die gescheiterten Hoffnungen der Menschen in den Vorstädten.
Der Kern des Problems ist längst bekannt
Verblüffend ist also, dass der Kern des Problems längst benannt ist und all die Jahre dennoch kaum etwas dagegen unternommen wurde. Dieses Erstaunen zieht sich durch fast alle Wortmeldungen, wenn es wieder einmal knallt. Immer wieder wird deutlich, dass Intellektuelle und Politiker zwar gerne eine irgendwie aufbegehrende Klasse zitieren, sie aber allenfalls als Vehikel für ihre eigenen politischen Forderungen ins Feld führen. Da werden die ärmeren Schichten – je nach Bedarf – zu ehrlichen Arbeitern oder faulen Lumpen, zu unschuldigen Bürgern oder rassistischen, schwulenfeindlichen Schlägern.
Édouard Louis, erst 30 Jahre alt und schon in jungen Jahren eine Art Shootingstar der französischen Literaturszene, beschreibt diesen Zustand in seinem Buch „Wer hat meinen Vater umgebracht“. In seinen Augen ist Politik für die Oberschicht ein theoretischer Ort, ein Platz für Debatten und Diskurse. Für einen einfachen Arbeiter wie seinen Vater könne Politik aber etwas sehr Konkretes sein und bedeuten, dass er von einem Tag auf den anderen keine Arbeit mehr hat. Es ist diese Authentizität der Aussagen des Proletariersohnes, die Édouard Louis als Gesprächspartner gerade so begehrt machen.
Die Frustration wird an die Kinder vererbt
Der Staat wird als Feind gesehen
Ähnliches berichtet Nicolas Mathieu in „Leurs Enfants après eux“, einem Roman aus dem Jahr 2018, in dem er das Leben der Jugend während der 90er Jahre in den kleinen und mittleren Städten der französischen Peripherie beschreibt. Dort, wo die fundamentalen Entscheidungen der Wirtschaftslenker aus dem fernen Paris in voller Härte spürbar wurden, wo im Norden die Hochöfen erloschen und im Süden die Fabriken ihre Tore dichtmachten. Das gesamte Leben jener Menschen habe sich nach dem Rhythmus der Schichten in den Fabriken gerichtet, sagt der Autor. Doch als die Wirtschaft liberalisiert und die Märkte geöffnet wurden, brach diese Sicherheit in sich zusammen. Und heute, erklärt Mathieu, wundert sich die Elite, dass diese abgehängten Arbeiter Straßen blockieren und ihre Frustration an ihre Kinder weitergegeben haben, die im Staat vor allem einen Feind sehen.
Auch jetzt reagieren die Politiker, wie man es seit Jahrzehnten von ihnen gewohnt ist. Jeder besetzt seine jeweilige Barrikade und gibt empörte Statements von sich, was aber nur wenig zur Lösung der Probleme beträgt. Jean-Luc Mélenchon, Frontmann der Linken, sieht einen französischen George-Floyd-Moment und fordert die Auflösung der Polizei. Viele Grüne beklagen lautstark einen systemischen Rassismus bei den Sicherheitskräften, die Konservativen fordern das harte Durchsetzen von Recht und Ordnung, und die rechtsextreme Marine Le Pen wettert wieder einmal gegen den Islam und die in ihren Augen unkontrollierte Zuwanderung.
Die mahnende Stimme der Großmutter
Wie eine Stimme der Vernunft wirkt in dieser Situation die Großmutter des erschossenen Jungen, die zur Ruhe aufruft. „Zum Glück sind die Polizisten da. Die Leute, die gerade etwas kaputtmachen, denen sage ich: ‚Hört auf. Sie haben Nahel als Vorwand genommen‘“, sagte sie am Sonntag in einem Fernsehinterview. Sie sei zwar wütend auf den Beamten, der ihren Enkel erschossen habe, möchte aber nicht verallgemeinern. Er werde bestraft werden wie jeder andere auch. „Ich habe Vertrauen in die Justiz.“ Die Menschen sollten ruhig bleiben und nicht alles kaputtmachen.