Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Muskelbepackte Kerle starren ihn an. Der eine, erfährt Müller, ist Drogendealer. Der andere hat seine Frau halb totgeprügelt, der dritte ein Haus angezündet, um die Versicherungssumme zu kassieren. Müller sagt, er sitze wegen Steuerhinterziehung. Er weiß, dass Kinderschänder im Knast nicht gut behandelt werden.

 

Der Tagesablauf ist strikt geregelt. 6 Uhr wecken, 7 Uhr Frühstück, 12 Uhr Mittagessen, 17 Uhr Abendessen – alles aus Blechgeschirr und mit Plastikbesteck. Eine Stunde Hofgang, 23 Stunden Einschluss. Die doppelt vergitterten Fenster von Bau eins sind schräg angeordnet, dadurch ist das Sichtfeld eingeschränkt. Wenn Müller hinausschaut, sieht er einen Fassadenausschnitt vom gegenüberliegenden Bau zwei. Damit die Zeit schneller vergeht, meldet sich Müller zum Arbeitsdienst, Kippdübel montieren. Zur Belohnung darf er statt zweimal wöchentlich nun täglich duschen.

Wenn er nachts schlaflos auf seiner Pritsche liegt, fragt er sich: Was tun die hier mit mir? Will Müller ein Buch lesen, muss er einen Antrag stellen, wie er überhaupt für fast alles einen Antrag stellen muss – ein spezielles Shampoo, eine gewöhnliche Aspirin, eine Kanne mit heißem Pfefferminztee gegen die Erkältung. Nichts gibt es gratis, sogar für Fernsehen muss er bezahlen. Alle 14 Tage ist Besuch von der Verwandtschaft für je 30 Minuten erlaubt. Mitbringsel dürfen nur am Automaten in der Anstalt gekauft werden: Süßigkeiten, Limonaden, Nüsse. Wenn Müller mit seinem Neffen spricht, sitzt eine Vollzugsbeamtin daneben und macht sich Notizen. Jeder Brief, den Müller schreibt, wird zensiert.

Die Sicht des Strafverteidigers

Im deutschen Rechtswesen gilt die Unschuldsvermutung. Wie kann es also sein, dass Verdächtige wie Verbrecher behandelt werden? Wenn Andreas Baier, Stuttgarter Anwalt und Dozent für Strafrecht, seinen Studenten erklärt, was die U-Haft theoretisch bezwecken soll, spricht er von einer „Sicherung des Verfahrens“. Wenn er in seiner Sillenbucher Kanzlei unter vier Augen aus seiner Berufspraxis berichtet, nennt er einen Zweck, der in keinem Gesetzestext auftaucht: „Manchmal bekommt man den Eindruck, dass die Untersuchungshaft den Beschuldigten zu einem Geständnis bewegen soll.“

Es steht Aussage gegen Aussage. Tanias wiegt schwerer, Justitias Waage neigt sich zu Müllers Ungunsten. Der Richter erkennt einen dringenden Tatverdacht sowie eine akute Fluchtgefahr und ordnet nach Paragraf 112 der Strafprozessordnung Untersuchungshaft an. Der Beschuldigte wird in Handschellen abgeführt und in ein Zivilfahrzeug gesetzt. Zehn Minuten später sieht Müller durchs Autofenster Betonmauern, Stacheldrähte und Überwachungskameras. Dann öffnet sich das Stahltor zu einer unbekannten Welt.

Stammheim. In Bau eins der Justizvollzugsanstalt waren in den 70er Jahren Terroristen eingesperrt – Baader, Meinhof und andere. An der Pforte gibt Müller seine Persönlichkeitsrechte und seine Privatkleidung ab. Duschen. Dann bekommt Müller einen grauen Overall überreicht, der ihm viel zu groß ist, sowie Unterwäsche, festes Schuhwerk und blau-weißes Bettzeug. Er darf wählen: Raucher- oder Nichtraucherzelle. Ich bin Nichtraucher, sagt er.

Per Aufzug geht es nach oben, die einzelnen Stockwerke unterscheiden sich nur durch die Farbe der Wände. Die Wachmänner führen Müller einen Gang entlang, die Schritte hallen wie in einer Höhle. Dazwischen immer wieder metallene Türen. Riesige Schlüssel drehen sich in den Schlössern. Auf, zu, auf, zu. Endstation ist eine Viermannzelle: gekachelter Boden, ein Tisch, zwei Etagenbetten, vier Stühle und vier Spinde. Das Klo ist nur durch einen Sichtschutz vom Rest des Raums getrennt. Daneben sind die Wände mit Fäkalien verschmiert. Es stinkt. Das ist die Hölle, denkt Müller.

Der harte Alltag in der Untersuchungshaft

Muskelbepackte Kerle starren ihn an. Der eine, erfährt Müller, ist Drogendealer. Der andere hat seine Frau halb totgeprügelt, der dritte ein Haus angezündet, um die Versicherungssumme zu kassieren. Müller sagt, er sitze wegen Steuerhinterziehung. Er weiß, dass Kinderschänder im Knast nicht gut behandelt werden.

Der Tagesablauf ist strikt geregelt. 6 Uhr wecken, 7 Uhr Frühstück, 12 Uhr Mittagessen, 17 Uhr Abendessen – alles aus Blechgeschirr und mit Plastikbesteck. Eine Stunde Hofgang, 23 Stunden Einschluss. Die doppelt vergitterten Fenster von Bau eins sind schräg angeordnet, dadurch ist das Sichtfeld eingeschränkt. Wenn Müller hinausschaut, sieht er einen Fassadenausschnitt vom gegenüberliegenden Bau zwei. Damit die Zeit schneller vergeht, meldet sich Müller zum Arbeitsdienst, Kippdübel montieren. Zur Belohnung darf er statt zweimal wöchentlich nun täglich duschen.

Wenn er nachts schlaflos auf seiner Pritsche liegt, fragt er sich: Was tun die hier mit mir? Will Müller ein Buch lesen, muss er einen Antrag stellen, wie er überhaupt für fast alles einen Antrag stellen muss – ein spezielles Shampoo, eine gewöhnliche Aspirin, eine Kanne mit heißem Pfefferminztee gegen die Erkältung. Nichts gibt es gratis, sogar für Fernsehen muss er bezahlen. Alle 14 Tage ist Besuch von der Verwandtschaft für je 30 Minuten erlaubt. Mitbringsel dürfen nur am Automaten in der Anstalt gekauft werden: Süßigkeiten, Limonaden, Nüsse. Wenn Müller mit seinem Neffen spricht, sitzt eine Vollzugsbeamtin daneben und macht sich Notizen. Jeder Brief, den Müller schreibt, wird zensiert.

Die Sicht des Strafverteidigers

Im deutschen Rechtswesen gilt die Unschuldsvermutung. Wie kann es also sein, dass Verdächtige wie Verbrecher behandelt werden? Wenn Andreas Baier, Stuttgarter Anwalt und Dozent für Strafrecht, seinen Studenten erklärt, was die U-Haft theoretisch bezwecken soll, spricht er von einer „Sicherung des Verfahrens“. Wenn er in seiner Sillenbucher Kanzlei unter vier Augen aus seiner Berufspraxis berichtet, nennt er einen Zweck, der in keinem Gesetzestext auftaucht: „Manchmal bekommt man den Eindruck, dass die Untersuchungshaft den Beschuldigten zu einem Geständnis bewegen soll.“

Baier ist ein ehrgeiziger Strafverteidiger, gerade mal 34 Jahre alt, er will sich mit fragwürdigen Zuständen nicht ewig arrangieren müssen. „Das U-Haft-Recht gehört zeitgemäß reformiert“, sagt er. „In vielen Fällen würde es beispielsweise genügen, wenn man dem Beschuldigten elektronische Fußfesseln anlegt, um eine Fluchtgefahr auszuschließen.“

77 Tage verbringt Müller mit der Begründung „akute Fluchtgefahr“ in Stammheim, dann steht fest: Tania hat die Vergewaltigung frei erfunden. Kein Detail, das die Zehnjährige im Zusammenhang mit der vermeintlichen Tat beschrieben hatte, fand sich in Müllers Laden. Kein Riegel, mit dem er angeblich von innen die Tür abgesperrt hatte. Kein Vorhang, den er angeblich vor die Schaufenster gezogen hatte. Nicht einmal der Stuhl, auf dem er angeblich gesessen hat, als er das Mädchen befummelte.

Ein psychologisches Gutachten ergibt, dass Tania einen Intelligenzquotienten von 51 hat. Sie guckt regelmäßig TV-Gerichtsshows wie „Richterin Barbara Salesch“ und prägt sich besonders genau die Schilderungen von sexuellen Missbrauchsfällen ein. Viel Beachtung erfährt die Sonderschülerin normalerweise nicht. Erst als sie von der Vergewaltigung spricht, interessiert man sich plötzlich für sie. Sogar die Kripo. In dem Gutachten heißt es, Tania fühle sich oft sozial ausgeschlossen, kapsele sich ab und flüchte in eine Scheinwelt.

Der falsche Verdacht verfolgt Müller bis heute

Er könne keinem Mädchen böse sein, das geistig behindert ist, sagt Müller. Enttäuscht sei er aber von der Staatsgewalt, der die Aussage eines Kindes genüge, um einen unbescholtenen Bürger wegzusperren. Sollte die Polizei nicht zuerst prüfen, ob die Vorhaltungen plausibel sind?

Der Staat hat Müller 25 Euro Entschädigung pro Hafttag gezahlt sowie einen Teil seiner Anwaltskosten. Drei Monate war sein Laden geschlossen, in dieser Zeit machte der Einzelhändler null Umsatz. Nebenkosten fielen hingegen laufend an, Müller bekam davon keinen Cent ersetzt. Er könne seinen Verlust nicht nachweisen, hieß es von amtlicher Seite.

Vor einem Jahr wurde Müller freigesprochen, selbst Tanias Anwalt rückte bei der Hauptverhandlung von den Vorwürfen ab und entschuldigte sich bei ihm. Auch das hat nichts daran geändert, dass Müller den falschen Verdacht nicht mehr los wird. In dem kleinen Stadtbezirk hatte fast jeder von der vermeintlichen Vergewaltigung gehört, bis heute tuschelt mancher: vielleicht war er es ja doch. Die Kundschaft bleibt weg. Sein Laden sei verbrannt, sagt Müller. Er muss ihn verkaufen.

Eine schmerzhafte Erfahrung

Andere würden klagen: Man hat meine Existenz zerstört. Doch so tickt Müller nicht. Er sagt auch nicht, dass er seinen Glauben an den deutschen Rechtsstaat verloren habe. Immerhin habe er die Möglichkeit gehabt, seine Unschuld zu beweisen. In anderen Ecken der Welt hätte man ihn womöglich sofort gelyncht. Stammheim war schmerzhaft, aber nicht tödlich.

Müller hofft, dass er nicht umsonst in Haft saß. Vielleicht haben die Polizisten, die Staatsanwälte, die Richter aus seinem Fall gelernt und gehen nun behutsamer mit Verdächtigen um. Vielleicht bewegt seine bittere Erfahrung etwas in den Köpfen. Diese Vorstellung tröstet Müller.