Das, was früher intim war, wird immer häufiger öffentlich. Angela Tillmann hat die Pornografisierung unserer Welt untersucht. Adrienne Braun hat sich mit der Professorin für Kultur- und Medienpädagogoik darüber unterhalten.

Kultur: Adrienne Braun (adr)
Stuttgart – Die Röcke können nicht kurz genug sein, in TV-Shows lassen junge Mädchen die Hüllen fallen, und im Internet kann man sehen, was andere Menschen beim Sex so treiben. Die Wissenschaftlerin Angela Tillmann hat ein Buch mitherausgegeben zur „Pornografisierung von Gesellschaft“ – und ist überzeugt, dass die große Freiheit auch rückschrittlich ist.
Frau Tillmann, was meint Pornografisierung? Sind das Nackte in der Werbung?
Mit diesem Begriff beziehen wir uns nicht allein auf die Ausstellung von Nacktheit in den Medien oder Pornos, sondern es geht um einen veränderten Umgang mit pornografischen Bezügen in Kultur und Gesellschaft und einen veränderten Umgang mit Sexualität in der Öffentlichkeit.

Was hat sich denn verändert?
Es gibt eine Verschiebung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Was ehemals hinter verschlossenen Türen stattfand und tabuisiert war, wird in die Öffentlichkeit gezerrt. Denken Sie an die Bücher von Charlotte Roche, in denen sie sich explizit und provokant mit den Themen Körper, Körperflüssigkeiten und Sexualität auseinandersetzt. Oder „Germany’s Next Topmodel“, wo die Mädels Oben-ohne-Shootings bestehen müssen. Wir haben es in den Medien immer häufiger mit der Ausstellung von intimen körperlichen, sexualisierten Handlungen zu tun – in Castingshows, Reality-TV, Werbekampagnen oder Musicclips.

Sind es vor allem Frauen, die Intimes zeigen?
Wir können dies auch bei Männern beobachten. Wobei in der Werbung eher Frauen inszeniert werden, und zwar in der Regel für ein männliches Publikum. Wenn die Männer sich inszenieren wie im Sport, ziehen auch sie sich eher für ein männliches Publikum aus. Seit 1995 haben sich mehr als dreißig Sportlerinnen für den deutschen „Playboy“ ausgezogen, so etwas kennen wir auf der anderen Seite nicht. Bei Männern stehen andere Formen der Anerkennung im Vordergrund.

Aber Frauen haben sich doch schon immer sexuell vermarktet. Was ist da neu?
In den Fünfzigern hatte Hildegard Knef eine Nacktszene im Film „Die Sünderin“. Das war ein Skandal. Heute braucht es andere Bilder, um Aufmerksamkeit zu erlangen, darum geht es. Dafür wird der Körper immer stärker in Dienst genommen.

Liegt das an den technischen Möglichkeiten?
Es gibt keine so genannte Bückware mehr, also ,heiße Ware‘ unter dem Ladentisch. Durch das Internet ist es leichter geworden, Dinge zu verbreiten – wie auf Youporn, wo auch Amateurpornos gezeigt werden. Die besuchen Jugendliche, Jungs stärker als Mädchen. Für sie ist es normal, dass sie das sehen, ohne unbedingt immer davon berührt zu werden.

Aber liegt es nur an der Technik, dass sich so viele freiwillig exhibitionieren?
Das muss man im Kontext anderer gesellschaftlicher Prozesse sehen – wie Individualisierung und Globalisierung. Der Mensch konzentriert sich immer mehr auf sich selbst und schreibt sich für viele Entwicklungen selbst Verantwortung zu – auch für das eigene Glück. Das geht einher mit einer Konzentration auf das Private, das Intime und den eigenen Körper. Andererseits werden wir immer stärker zum Spielball ökonomischer Interessen. Der Körper ist ein letztes gestaltbares Objekt, mit dem ich eigenverantwortlich persönliche und soziale Gewinne erzielen kann – Stichwort „Big Brother“ oder „Germanys Next Topmodel“.

Reicht ausziehen? Man muss doch auch jung und schön sein?
Je nachdem, in welchem Format man unterwegs ist, ganz sicher. Ansonsten ist es eine Form der Inszenierung. Man muss unterscheiden zwischen dem, was man auf der medialen Bühne tut und dem, was jemand privat tut.

Ist es noch lustvoll, ständig mit Sex konfrontiert zu sein?
Die ständige Konfrontation ist sicher nicht lustvoll. Aber das ist nicht neu, denn Lust erleben Menschen nur, wenn sie die Lust gezielt suchen. Sie stellt sich nicht mit der Konfrontation ein.

Ganz konkret: früher trug man zu besonderen Anlässen Reizwäsche. Heute tragen Mädchen sie täglich. Ist das noch lustvoll?
Das eine ist die Ausstellung von Nacktheit, Privatheit, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Das andere ist, was man in seiner Privatheit tut. Die erfüllte Zweisamkeit steht bei jungen Leuten immer noch ganz oben. Aus Unsicherheit heraus sind sie sogar oft sehr konservativ und propagieren Zweisamkeit, heteronormative Orientierung, Ablehnung von Andersartigkeit.

Sie laufen herum wie Sexbomben und machen romantisch-ängstlichen Kuschelsex?
Gerade bei den Mädchen gibt es die Tendenz, sich sexualisiert und pornografisch darzustellen. Sie inszenieren sich mit Bezügen zum Pornochic. Aber das ist keine Botschaft. Das ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle: Was darf ich als Mädchen, wie sexy darf ich sein, ohne als Schlampe zu gelten? Diese Fragen testen sie aus, auch in sozialen Netzwerken.

Aber sind das nicht uralte Rollenklischees?
Das ist das Problematische daran. Leider haben wir es immer noch mit Klischees zu tun. Daher finden die jungen Mädchen jemanden wie die Rapperin Lady Bitch Ray spannend, denn sie tritt selbstbewusst auf und testet stellvertretend für sie Grenzen aus. Sie sehen, es gibt Frauen, die sich selbstbewusst ,weiblich‘ inszenieren und damit Erfolg haben. Aber auch Lady Bitch Ray bleibt in einer Frauenrolle verhaftet, in der es darum geht, vor allem begehrenswert für Männer zu sein. Wichtig wäre aber, dass Mädchen alternative Körper- und Geschlechtsinszenierungen erleben, Geschlechtergrenzen und -hierarchisierungen kritisch, aber auch kreativ und lustvoll bearbeiten. Da ist auch die Pädagogik gefordert, damit Mädchen sich mit diesen Ambivalenzen auseinandersetzen können.

Wie wird es mit unserer Gesellschaft weitergehen? Wird immer mehr gezeigt werden?
Das ist eine Frage der kulturellen Entwicklung. Prognosen sind da schwer zu erstellen. Es ist wohl auch eine Frage, welche Vermarktungsstrategien Medien künftig wählen, also ob sie mit der Ausstellung von Privatem und Intimem weiterhin Aufmerksamkeit erzielen können.