Zum Saisonabschluss präsentiert das Stuttgarter Schauspiel erneut dramatisierte Prosa auf der Bühne: Im Nord gerät Hermann Hesses Erzählung „Unterm Rad“ zu einer juvenilen Plantscherei.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Der Junge hat Talent. Gescheit ist er auch, fleißig, zäh und ehrgeizig. Wenn Hans Giebenrath manchen langen Abend in seiner Kammer saß und lernte, ergriff ihn mitunter eine „selige Ahnung“, dass er anders, besser sei als seine „dickbackigen, gutmütigen Kameraden“, die dummen Burschen, auf die er, wer weiß, eines Tages wird herabsehen dürfen. Hans will es weit bringen, weil er es weit bringen muss. Der Vater, die Lehrer, der Pfarrer, sie alle haben entschieden: in Stuttgart zum Landexamen, ins Seminar nach Maulbronn, von da ins Tübinger Stift und schließlich auf die Kanzel.

 

Hans, der Überflieger, das begabte Kind schafft es nicht, so wie auch der Autor Hermann Hesse im Leben scheiterte. Auch ihm bescheinigte die Mutter „ganz erstaunlichen Verstand“, aber als er in Maulbronn auf die Theologenlaufbahn vorbereitet werden sollte, lief er davon – „entweder Dichter oder gar nichts“. Hesse war wegen eines Selbstmordversuchs in der Nervenheilanstalt, das Gymnasium und mehrere Lehren brach er ab. „An mir hat die Schule viel kaputtgemacht“, konstatierte er später, er litt unter Lehrern, die „immer wieder plagen, höhnen und strafen müssen“. In seiner Erzählung „Unterm Rad“ schrieb er sich seine Erfahrungen von der Seele.

Im Nord wird nun die Geschichte des Hans Giebenrath erzählt, der sozusagen unter die Räder kommt. „Unterm Rad“ ist die letzte Premiere des Schauspiels Stuttgart in dieser Spielzeit, aber in der Inszenierung von Frank Abt steht nicht nur ein Hans mit nassen Füßen im Wasser, sondern gleich fünf Schauspieler waten da als Hans durch ein Wasserbecken. Die Bühne von Michael Köpke erinnert ein wenig an die Valser Therme von Peter Zumthor: ein Kasten, ringsum schiefergraue Wände, auch das Publikum ist mit eingesperrt in diese große Schachtel. Knöchelhoch steht das Wasser auf der Bühne, tief genug, damit die Schauspieler darin planschen und sich wälzen können, einmal peitschen sie die Brühe wütend mit einem dicken Tau, so dass es nur so spritzt. Deshalb hängen am Eingang Warnschilder, dass man in den ersten Reihen nass werden könnte.

Zwischen Freiheit und Druck

„Es ist mir wahrscheinlich, dass der Roman Sie enttäuschen wird“, schrieb Hesse, als er „die Geschichte eines schwäbischen Schulknaben“ an seinen Verleger schickte. Der Stoff sei spröde und „zu lokal“, so Hesse. Das aber macht „Unterm Rad“ durchaus reizvoll für eine Stuttgarter Bühne. Der in Calw geborene Hesse ging in Bad Cannstatt ins Gymnasium, Maulbronn und Tübingen, Schauplätze seines eigenen Leidens, sind nicht weit. Die Schule müsse „den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken“, heißt es in „Unterm Rad“, und auch wenn heute niemand mehr die damals gängige Pädagogik vertreten würde, müssen Eltern und Lehrer auch heute noch sehr wohl abwägen, wie viel Freiheit sie gewähren, wie viel Druck sie ausüben.

Der Regisseur Frank Abt aber interessiert sich nicht allzu sehr für die Seelenlage seines Helden Hans. Die Erzählung wurde auf eine knapp zweistündige Spielfassung zusammengestrichen, in der die Stationen von Hans’ Lehr- und Leidensweg auf die Zeit im Kloster Maulbronn zusammenschrumpfen. Einzelne Erlebnisse werden aufgegriffen: der Tod eines Kameraden und die homosexuelle Begegnung mit dem künstlerisch interessierten Hermann Heilner. Man erfährt am Rand von August, dem Mechanikerlehrling, auch der Vater wird hier und dort zitiert. Und es wird das Liedchen gesungen, das Hans kurz vor seinem Tod trällert. Unter einem Apfelbaum liegend überkommt ihn für einen Moment Heiterkeit, und er intoniert: „O, du lieber Augustin, alles ist hin.“

Auf Distanz zu den Figuren

Die Kostümbildnerin Annelies Vanlaeren hat die Schauspieler zu dummen Augusts gemacht mit gepunkteten Hosen, Hosenträgern und lustigen Hütchen. Diese Clowns spielen nicht nur abwechselnd den Hans, sondern auch die übrigen Figuren. Und hier erweist sich das Konzept als höchst problematisch, denn man kann oft nur vermuten, wer gerade spricht. Kein Hans, mit dem man sich identifizieren, mit dem man mitleiden könnte, stattdessen reihen sich die abgehakten, oft aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze aneinander und werden mit allerhand Theaterspiel illustriert, mal mit Pantomime, mal durch Improvisation. So stellen sich in Maulbronn die Schüler vor – und improvisieren die Schauspieler blödelnd: „Ich bin Konrad Adenauer“ oder „Ich bin der Neffe des Erfinders des Benzolringes“. Mal spielt einer fies quietschend auf einer unsichtbaren Geige, und als Hans einmal die Einsamkeit überkommt, singt Andreas Leupold „ich bin so allein“.

So wird immer wieder Distanz zu den Figuren geschaffen, als wolle man jedes Gefühl, auch Mitgefühl verhindern, dabei waren Wut und Verzweiflung doch der Antrieb für Hesses Buch. Sicher, es gibt einzelne, starke Momente, wenn das Stimmengewirr der Gruppe die quälenden Einflüsterungen der Väter und Lehrer wiedergibt oder wenn die Erzählung für einen Moment Fahrt aufnehmen darf – aber dann werden schon wieder Weihnachtslieder gesungen oder zwitschern die Schauspieler wie Vöglein: Frühlingsbeginn. Hübsch kredenzte Marginalien, als würde in „Unterm Rad“ nicht mehr stecken.

An der glatten Wand hoch

Matti Kause und Sebastian Röhrle, Florian Rummel, Christian Czeremnych und Andreas Leupold sind vor allem eines: nass. Sie werfen sich ins Becken, planschen, kritzeln mit feuchter Kreide an die Schieferwände und auf den Grund des Beckens. Aber weil sie nicht in Rollen schlüpfen dürfen, weil nicht Schicksale in einer Gesellschaft verhandelt werden sollen, haben sie wenig Möglichkeiten, ihr Können zu entfalten. Eine Leistung sei erwähnt, eine sportliche: am Tau ziehen sie sich die glatte, nackte Wand hoch, dazu braucht es Muskeln. Respekt.

„Ich liebe sehr diese tiefe und mit so wunderbarer Kunst erzählte Geschichte um ihrer Menschlichkeit willen“, schrieb Stefan Zweig 1905 an Hesse. Im Nord ist von dieser Menschlichkeit nichts geblieben. Die Inszenierung gibt sich alle Mühe, Distanz zu den Figuren zu wahren, und verlässt sich lieber auf die eigenen Einfälle. Nachdem Hermann Heilner aus dem Kloster geflohen ist, wird er von einem Landjäger aufgegriffen. Worauf die Schauspieler auf der Bühne, in – na, was wohl – eine Landjägerwurst beißen.