Die Firma Ferdinand Gross begegnet den anhaltenden Problemen mit Lieferketten und Versorgungssicherheit durch hohe Transparenz.

Ende des 16. Jahrhunderts entwickelte Jacques Besson, Hofingenieur Karls des IX. von Frankreich, eine semiautomatische Maschine zur Herstellung von Schrauben. Vermutlich reicht die Idee des Verbindungselements bis in die Bronzezeit zurück. Die Firma Ferdinand Gross mit Stammsitz in Leinfelden-Echterdingen kann immerhin auf mehr als 150 Jahre im Schraubengeschäft zurückblicken. Doch Tradition ist nur einer der Faktoren, die den Erfolg des Unternehmens ausmachen. Ein anderer ist das Augenmerk auf Innovation. Im Juni hat Gross das Siegel des Wettbewerbs Top 100 erhalten: bereits zum achten Mal.

 

Für den Schraubenhändler, der sich auf die Belieferung von Anlagen-, Fahrzeug- und Maschinenbauern spezialisiert hat, ist der maßstabsgerechte Vergleich durch neutrale Instanzen im Innovationswettstreit alle zwei Jahre auch ein Mittel zur Standortbestimmung. Ideen im Bereich der Lieferketten-Optimierung zeichneten Gross schon in der Vergangenheit aus. Man will das Schlagwort Industrie 4.0 mit Leben füllen und vorantreiben. Auch diesmal konnte eine Software bei Top 100 überzeugen: Die Eigenentwicklung FALCON. „Wir haben sechs eigene Programmierer eingestellt“, so der Geschäftsführer Thomas Erb. Das sei in der Branche unüblich und in gewisser Hinsicht ein Luxus. Der Schwabe in ihm stelle jedoch zufrieden fest, dass sich die Investition gelohnt habe.

So funktioniert Multi-Sourcing

Das gilt auch für die Kunden, die dank der Filder-Software beispielsweise Einblick erhalten, welche Verbindungsteile an welchem Standort, in welchem Produktionsbereich und in welcher Menge vorliegen oder wie lange sie ausreichen werden. Droht ein Engpass, können Teile von anderen Versorgungsstellen herangezogen werden. Erb betont, so detailliert würden Bewegungsdaten und Verfügbarkeit von Schüttgut wie Schrauben oder Muttern durch andere Systeme nicht angezeigt. Die Technologie hat sich bewährt. Auch angesichts der Verwerfungen durch Corona: „Ich habe Versorgungsengpässe in dieser Dimension noch nie erlebt“, zieht Thomas Erb Zwischenbilanz. „Trotzdem gab es in den letzten 18 Monaten keine Produktionsstillstände bei unseren Kunden.“ Dazu hat auch beigetragen, dass Gross auf Multi-Sourcing setzt: Statt Teile nur aus einer Quelle zu beziehen, kommen mehrere Zulieferer aus einer Region und Zulieferer aus verschiedenen Regionen zum Zuge. Größtmögliche Flexibilität ist gefragt, um solche Störungen zu kompensieren. Allein in Deutschland befüllt Gross täglich rund 5000 Kanban-Vorratsbehälter an 1500 Kunden-Lagerorten.

Warum kurze Lieferwege nicht immer eine Lösung sind

Nun sollte man auf die Idee kommen, kürzere Lieferwege wären eine Lösung. Wozu Muttern aus Indien ordern, wenn sie aus Italien kommen könnten? Ganz so einfach ist es nicht. „Es gibt in Europa praktisch keinen Hersteller mehr, der die Standardmutter DIN 934 für den allgemeinen Markt liefert“, stellt der Gross-Geschäftsführer fest. „Hier sind wir auf den asiatischen Markt angewiesen.“ Wohl gebe es Firmen, die speziell abgemessene Muttern an Abnehmer wie VW oder Daimler lieferten. Gross versorgt auch Spezialkunden: Kässbohrer etwa. In den Ketten von deren Skipistenraupen stecken jeweils 800 Schrauben, die nur dort Verwendung finden. „Rund 50 Prozent unseres Geschäfts ist die Belieferung mit solchen Spezialteilen“, erklärt Erb. Die übrigen 50 Prozent sind ebenfalls nicht ganz trivial: Es gibt 200 verschiedene Normen für Schrauben, Muttern und Unterlegscheiben für die von der Firma Ferdinand Gross bedienten Industrien.

Das Unternehmen hat 250 Mitarbeiter in Deutschland

Baugewerbe und holzverarbeitende Unternehmen haben noch einmal eigene Vorgaben. Hinzu kommen diverse Güteklassen und Oberflächen. Thomas Erb spricht von 100 000 unterschiedlichen Teilen im Kernsortiment des Verbindungsteilehändlers, der 1864 in Stuttgart als „Eisenwarenhandlung für Schrauben-, Schmiede-, Schlosser- und Wagenbauartikel“ vom damals 25-jährigen Ferdinand Gross gegründet wurde. „Es wäre gar nicht möglich, dieses Sortiment selbst zu produzieren“, betont er. „Wir beschränken uns mit unseren deutschlandweit 250 Mitarbeitern auf den Handel.“

Ideen wie die kundenspezifische Identifikation und Kommunikation engpassgefährdeter Teile mittels FALCON kommen nicht spontan zustande. Darauf zu warten, wäre wie Lottospielen, sagt Erb. „Wir motivieren unsere Mitarbeiter dazu, ihre Gedanken auszusprechen. Ein- bis zweimal im Monat hält jeder Bereich eine sogenannte Stehung ab. Bei einem Kaffee wird in rund 15 Minuten ausgetauscht, was gut läuft und was weniger gut.“ Bei Optimierungsbedarf übernimmt ein Beauftragter die Aufgabe, das Thema voranzutreiben. „Innovation ist für uns kein Zufall“, resümiert Thomas Erb. „Sie ist fester Bestandteil unserer Unternehmenskultur.“