Das Ausmaß der nicht gehaltenen Schulstunden in Baden-Württemberg verletzt möglicherweise die Verfassung, besagt ein Rechtsgutachten. Noch suchen Elternvertreter aber das Gespräch mit der Kultusministerin.

Stuttgart - Mehr als acht Prozent ausgefallener Unterricht verstoßen gegen die Verfassung. Das ist, verkürzt gesagt, das Ergebnis eines Rechtsgutachtens, das Michael Mattig-Gerlach von der Elternvertretung an Gymnasien (Arge) am Freitag vorgestellt hat. Das Gutachten hat die Stuttgarter Anwaltskanzlei Wuertenberger im Auftrag der Arge erstellt. Es geht darin um die Möglichkeit einzelner Schüler, gegen den aus Sicht der Eltern grassierenden Unterrichtsausfall an den Schulen im Land und insbesondere an den Gymnasien vor das Verwaltungsgericht zu ziehen.

 

Bei mehr als acht Prozent Ausfall wird es kritisch

Konkret fordert das Gutachten, dass für Gymnasiasten in den drei Jahren vor dem Abitur in den Prüfungsfächern „nicht mehr als acht Prozent an Unterricht durch einen qualifizierten Lehrer ausfallen“ dürfen. Nur so sei ein gleicher Zugang zu Bildung möglich, weil Unterrichtsausfall potenziell die Abinote verschlechtert – was sich auf die Chancen bei der Studienplatzvergabe auswirkt. Wer mehr als acht Prozent für vertretbar halte, der „zweifelt daran, dass das Erreichen der Bildungs- und Unterrichtsziele jenes Stundenumfangs bedarf, der in den Bildungsplänen vorgesehen ist“, heißt es im Gutachten.

Eine Vollerhebung des Kultusministeriums vom 12. bis 16. November ergab, dass an den Gymnasien im Land 9,8 Prozent des Unterrichts nicht von der vorgesehenen Lehrkraft gehalten wurden. Tatsächlich ausgefallen sind 4,9 Prozent. Die Situation an den Schulen sei sowohl für die Schüler wie auch für die Lehrer „eine Katastrophe“, sagte der Vorsitzende der Arge Stuttgart, Michael Mattig-Gerlach. Er sehe „nicht den Willen der Landesregierung, das nötige Geld in die Hand zu nehmen“.

Freiburger bereit zur Klage

Bereits im Herbst hatten die Elternvertreter mit Klage gedroht. Am Freitag präsentierte sie den Freiburger Vater Jens Hoeksma. 92 Stunden seien bei seinem älteren Sohn seit Schuljahresbeginn ausgefallen, das entspreche einer Quote von 10,2 Prozent. „Ich kriege so langsam Angst, ob mein Sohn das Abi schafft“, sagte der Vater, „die Prüfungsanforderungen bleiben schließlich gleich.“ Familie Hoeksma ist bereit, den Fall ihres Sohns vor Gericht zu bringen.

Wie aussichtsreich ist so eine Klage? Mattig-Gerlach hofft, dass es dazu gar nicht kommt. Er wird das Gutachten samt der darin formulierten Forderungen dem Kultusministerium vorlegen. Die Arge fordert unter anderem mehr Lehrerstellen für eine 110-prozentige Unterrichtsversorgung, den Ausbau der Vertretungsreserve und die Einstellung von Quereinsteigern. Außerdem sollen Referendare nicht mehr während der Sommerferien entlassen werden und Lehrer frühestens mit 63 in Pension dürfen. Nur wenn im kommenden Schuljahr keine Verbesserungen spürbar seien, werde man klagen, kündigte Mattig-Gerlach am Freitag an.

Eisenmann gesprächsbereit

Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) kündigte an, ihr Haus werde das Gutachten „sorgfältig prüfen und bewerten“. Danach will sie „selbstverständlich für ein gemeinsames Gespräch mit der Arge zur Verfügung stehen.“ Unabhängig von einer Klage wolle man zusammen mit dem Regierungspräsidium die Situation am Kepler-Gymnasium in Freiburg verbessern. Der Fall dort sei extrem und nicht die Regel.

Doch das Kultusministerium betont, „das Grundproblem sind fehlende Lehrer“. Es könnten nicht alle offenen Stellen besetzt werden. Als schnelle Lösung kommen in Frage: Die Klassen vergrößern oder die Lehrer zu mehr Unterricht verpflichten. „Obwohl ich der Unterrichtsversorgung absolute Priorität einräume, lehne ich beide Maßnahmen bewusst ab“, betont Eisenmann. „Unsere Lehrerinnen und Lehrer sind so schon sehr gefordert und die Klassen gefühlt eher zu groß als zu klein.“

Eisenmann setzt nach wie vor auf ihr Maßnahmenpaket zur Unterrichtsversorgung. Dieses sieht beispielsweise vor Teilzeitdeputate zu erhöhen und pensionierte Lehrer zu rekrutieren. Auch prüfe sie ein Modell, bei dem Lehrer freiwillig für eine gewisse Zeit mehr arbeiten und die Mehrarbeit später wieder ausgleichen können.

Mehr Vertretungslehrer verlangt

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die SPD verlangen, dass die Vertretungsreserve sofort ausgebaut wird. An Gymnasien haben für dieses Schuljahr 2000 Bewerber keine Stelle bekommen. Sie stünden als Vertretungsreserve zur Verfügung, argumentieren GEW und SPD. Doro Moritz, die Landesvorsitzende der GEW sagte: „Es ist ein Armutszeugnis für die Regierung Kretschmann, wenn bei sprudelnden Steuereinnahmen Eltern bald das Recht auf Unterricht für ihre Kinder einklagen müssen.“ Stefan Flust-Blei, der bildungspolitische Sprecher der Landtags-SPD, wirft der Kultusministerin Tatenlosigkeit vor, sie habe seit drei Jahren kein Mittel gegen den Unterrichtsausfall gefunden. Es sei „richtig, dass Eltern auch bereit sind, vor Gericht zu ziehen – für Grün-Schwarz ist diese Drohung an sich schon eine Blamage“, so Fulst-Blei.