Drei Wochen dauerte das Frühlingsfest, jetzt wieder der Cannstatter Wasen geputzt – auch im Untergrund. Dort lauern viele Gefahren, auch für erfahrene Kanalmänner. Ein Besuch.

Stuttgart - Der Einstieg in die Unterwelt ist unscheinbar: Versteckt zwischen Fressbuden und Fahrgeschäften ist die Falltür, eingelassen im Betonboden auf dem Cannstatter Wasen, kaum auszumachen. Der Abstieg ist nur mit Sicherheitsseilen möglich. Schmale Sprossen führen nach unten – und enden auf dem Grund eines unterirdischen Beckens. „Willkommen!“, ruft Kanalarbeiter Tourabi Dogan, sein Willkommensgruß steigt als kleine Atemwolke im Lichtkegel auf.

 

Ein widerlicher Geruch hat sich hier unten breitgemacht – das Ergebnis von drei Wochen Frühlingsfest. Verborgen vor den Nasen der Besucher sammeln sich die Überreste von Pommesfett, Zuckerwatte und Bier ungestört in einer riesigen Kloake, die es nach dem Volksfest zu reinigen gilt. Der Gestank gehört für die Arbeiter aus der Kolonne Großkanalreinigung ebenso zum Alltag wie die Nichtbeachtung der Außenwelt. „Wir machen heute Frühjahrsputz“, sagt Dogan. „Das Schlimmste haben wir schon abgepumpt, in zwei Stunden sind wir fertig.“ Im Vergleich zum Abbau der Festzelte auf dem Wasen, der sich noch über Wochen hinziehen wird, erledigen die Kanalmänner ihren Job in Rekordzeit.

Früher Dreckschaufler, heute Spezialisten

„Früher waren wir Dreckschaufler, heute sind wir eine Spezialistentruppe“, sagt der Bereichsleiter Harald Bauer von der Stuttgarter Stadtentwässerung, Abteilung Klärwerke und Kanalbetrieb. Bauer ist bei den Einsätzen seines Teams nicht oft dabei: Auf seine Männer sei hundertprozentig Verlass, sagt er, jeder wisse, was zu tun ist. Nur wenige Menschen sind für diesen Beruf tauglich. „Viele Bewerber brechen das Probearbeiten schon nach zwei Tagen ab“, erzählt der Einsatzleiter. Zu groß sei der Ekel – die Fähigkeit, ihn überwinden zu können, gehöre zu den Schlüsselqualifikationen.

Nachwuchskräfte sind also rar im Kanalbetrieb, die Männer in Harald Bauers Kolonne seit vielen Jahren dabei. Täglich koordiniert er seine zehnköpfige Kolonne zu Einsätzen, ohne die die Stadt längst im eigenen Dreck versunken wäre: Neben Rohrverstopfungen, verursacht beispielsweise durch achtloses Wegwerfen von Feuchttüchern oder Tampons, müssen Pumpwerke gewartet, Schächte umgeleitet – oder eben mal schnell ein turnhallengroßes Becken vom Unrat Zigtausender Volksfestbesucher befreit werden.

Rund zehn Meter unter dem Cannstatter Wasen ruft der Kanalarbeiter Dogan seine Kollegen herbei. Seine Worte hallen zigmal von den drecktriefenden Wänden wider und scheinen sich schon in der Dunkelheit zu verlieren, als sich die zwei Männer nähern. Sie tragen orangefarbene Latzhosen und schwere Gummistiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichen, ein Vlies schützt sie vor der feuchtwarmen Nässe, der gelbe Bauarbeiterhelm vor herabtropfendem Schmodder. Die weiteren Utensilien: zentimeterdicke Gummihandschuhe und die starke Stirnlampe.

Die Abgründe der Spaßgesellschaft

Im Zwielicht wirken Helge Schneider und Costa Sidirias in ihrer Montur wie Bergarbeiter. „Wir sind seit 6.30 Uhr hier unten, alles wie immer – der übliche Dreck eben“, klärt Schneider kurz über den aktuellen Putzstand auf. Der 39-Jährige überragt seine beiden Kollegen um einiges, ein Riese in der Unterwelt.

Der „übliche Dreck“ lagert in einer Rinne zu Schneiders Füßen, die sich durch die unterirdische Halle bis zu einem Auffangbecken mit Sieb schlängelt. Der Inhalt gibt Einblicke in die Abgründe der Spaßgesellschaft: Zig Münzen, offenbar unbemerkt verloren beim Feiern im Festzelt, schimmern auf dem Grund der Rinne, daneben Likörfläschchen, zerplatzte Luftballons, und auch Unterwäsche ist hier zu finden. Der Müll verstopft die Pumpen, wogegen die Kanalarbeiter ständig ankämpfen: Mit Hochdruckreinigern spülen sie die Überreste in das Auffangbecken und schöpfen den groben Dreck mit Schaufeln ab.

Wie lässt sich der Ekel unterdrücken, wenn man knietief in einer stinkenden Brühe steht? „Ich sehe das alles nur noch als Schlamm, der wegmuss“, sagt Schneider schulterzuckend und erntet von seinen Kollegen stumme Zustimmung. Hier, tief unter der Stadt, verständigt man sich meistens wortlos, oft reicht ein kurzer Blick in das von der Stirnlampe erhellte Gesicht des anderen.

Einzig ein konstantes Piepsen stört die Stille – ein Piepsen, das Leben retten kann. Gaswarngeräte sind seit einem tragischen Unfall unterhalb der Wilhelma für die Männer Pflicht: Vor 20 Jahren sind drei Stuttgarter Kanalarbeiter gestorben, nachdem sie Schwefelwasserstoff eingeatmet hatten. Das Gas kann sich vor allem bei stehenden Abwässern bilden, bei einer hohen Konzentration wirkt es schon nach wenigen Minuten tödlich. Seitdem tragen die Kanalmänner die Gaswarngeräte und einen sogenannten Selbstretter bei sich. Das konstante Piepsen signalisiert: Hier wird ständig die Atmosphäre überprüft, ein Alarm, ähnlich wie ein Feuermelder, warnt sie im Ernstfall. Der Selbstretter, ein kleiner Sauerstoffbehälter, verschafft den Arbeitern dann wertvolle Sekunden, um über einen Notausstieg an die frische Luft zu gelangen.

„Ich war drin, da ist plötzlich der Alarm losgegangen“, erinnert sich Tourabi Dogan an seinen einzigen Notfall. Seit 18 Jahren arbeitet der Kurde aus der Osttürkei im Stuttgarter Kanal. Es war nicht seine erste Berufswahl: Als Dogan nach Deutschland kam, versuchte er sich als Detektiv, die Geburt seiner Zwillinge zwang ihn, sich eine Stelle mit einem sicheren Einkommen zu suchen.

Die heimlichen Umweltschützer

In den Tiefen des Cannstatter Untergrunds meldet sich Costa Sidirias, der Dienstälteste, zu Wort: Natürlich gebe es Momente, die auch für den erfahrensten Arbeiter eklig seien: etwa wenn das Abwasser in einem sehr niedrigen Kanal bis zu den Knien reicht und man gebückt durch den Schacht laufen müsse. „Da kommt das Gesicht der Brühe gefährlich nahe, schön ist das nicht“, murmelt Sidirias in seinen weißen Bart hinein. Seit 27 Jahren arbeitet der Grieche im Stuttgarter Kanal. Das Reden überlässt er gerne den jüngeren Kollegen. „Hier unten ist man ungestört, da bleibt viel Zeit, um sich näher kennenzulernen“, sagt Helge Schneider, und Tourabi Dogan scherzt: „Die beiden sind wie zwei Ehemänner für mich.“

Unterbrochen wird die Unterhaltung von einem tiefen Grollen direkt über ihren Köpfen – aber auch daran sind die Männer schon längst gewöhnt. Immer wieder donnern schwere Lastwagen über sie hinweg, während sie in den Eingeweiden der Landeshauptstadt für Ordnung sorgen. Sie sind professionelle Umweltschützer, auch wenn sie sich selbst nicht so bezeichnen würden.

Lichtblicke in der Dunkelheit

Wie findet man sich in dieser Dunkelheit, abgeschnitten und völlig unbeachtet von der Außenwelt, zurecht? Zwar gibt es kleine Straßenschilder unterhalb der Kanaldeckel zur groben Orientierung, aber nur zu leicht kann man sich in dem 1700 Kilometer langen Stuttgarter Abflusssystem verirren, das mit unzähligen Verästelungen unter der Stadt verläuft. Auf einer Strecke, die vom Schlossplatz bis zur Plaza Mayor in Madrid reichen würde, transportieren rund 60 000 Kanäle täglich den Unrat der Stuttgarter zu den Klärwerken der Stadt, das allermeiste landet im Hauptklärwerk in Mühlhausen.

Häufig ist es nicht nötig, dass ein Arbeiter in den Untergrund steigt, vieles kann mithilfe der modernen Technik erledigt werden. „Bevor wir irgendwo runtergehen, schicken wir unsere Kameras voran“, erklärt Schneider. Wenn möglich, kommt anschließend ein ferngesteuerter Reinigungsroboter zum Einsatz. „Auch wir mögen den Dreck da unten nicht besonders“, sagt Helge Schneider.

Dennoch: Schneider und seine Kollegen mögen ihren Job. In der Dunkelheit schaffen sie sich ihre eigenen Lichtblicke. Manchmal retten sie Frösche, die sich in den Kanal verirrt haben. „Wir setzen sie dann in der Natur aus“, erzählt Helge Schneider. „Der Job bleibt immer spannend. Ich weiß nie, was mich am nächsten Tag erwartet.“

Kanalarbeiter: Ein krisensicherer Job

Sechs junge Leute stehen bei der Stuttgarter Stadtentwässerung zurzeit kurz vor dem Abschluss zur Fachkraft für Rohr-, Kanal- und Industrieservice – benötigt würden deutlich mehr. Wer sich für diesen krisensicheren Beruf entscheidet, muss sich erst einmal an die fast toxische Atmosphäre im Untergrund gewöhnen: Oft befällt die Neulinge in den ersten Tagen eine Magen-Darm-Grippe, verursacht von Millionen Bakterien, die sich im Abwasser tummeln.

Sidirias, Dogan und Schneider sind längst immun gegen solche Krankheiten, auch der Ekelfaktor spielt für die Kanalmänner längst keine Rolle mehr. Lässig lehnt sich Schneider an die Wand des unterirdischen Beckens, während er auf das Sicherungsseil wartet, die Verbindung zur Außenwelt. Er klettert die schmalen Sprossen nach oben. Dort stehen die zwei Teammitglieder, die bei diesem Einsatz an der Frischluft bleiben durften: der Vorabeiter und der Aufsichtsführende. Beide haben am Tor zur Unterwelt Wache gehalten, das Sicherungsseil jederzeit griffbereit. Hätte das Wetter umgeschlagen, ein Gewitter die Kanäle geflutet, hätten sie ihre Kollegen sofort alarmiert und hochgeholt.

Als letzter Kanalarbeiter kommt Tourabi Dogan ans Tageslicht. Er zündet sich eine Zigarette an und sagt: „Eigentlich ist es da unten gar nicht so schlecht. Im Winter ist es warm und im Sommer kühl.“