Mit einem Auftragswerk, dem Musiktheaterstück "Fremd", beendet Albrecht Puhlmann seine Intendanz am Staatstheater Stuttgart.

Stuttgart - Wie komponiert man das Entsetzen, das Verlöschen allen menschlichen Gefühls, den Schock, wenn die Kreatur den eigenen Abgrund erschaut? Wie leuchtet ein Musiker den Seelenraum einer Frau, die ihre Kinder tötet, mit Tönen? Das bedeutet dann für einen Komponisten den Moment der Wahrheit. Hans Thomalla weicht ihm nicht aus, schleicht sich nicht von der Bühne. Er bleibt. Und findet eine musikalische Sprache für das Unaussprechliche, Medeas Tat, findet auch den großen Bogen für das Vorangehende und das Folgende in "Fremd", dem Auftragswerk der Staatsoper Stuttgart, der letzten großen und vielleicht wichtigsten Produktion von Albrecht Puhlmanns Intendanz, die jetzt nach fünf Jahren endet.

 

Eine solche Szene des Kindermords auf der Opernbühne - und der 1975 geborene Hans Thomalla bekennt sich zur Gattung, nennt "Fremd" eine Oper - braucht bei aller Stilisierung den Zugriff eines Dramatikers. Diese das Werk beschließende dritte Szene, der bloß ein Epilog folgt, weist Thomalla als einen Meister aus. Er kleidet die Medea-Figur in den musikalischen Mantel bereits komponierter Mythosfixierung, nimmt die Finalszene aus Luigi Cherubinis Oper "Medée", zitiert sie wörtlich. So gibt er Jasons Geliebter, der Mutter seiner Kinder, eine Sprache; es ist nicht ihre eigene, es ist ein erstarrter Ausdruck, der sie panzert, nicht schützt vor den Zumutungen des Lebens, Jasons Verrat an ihr.

Thomalla verschmutzt Cherubinis Musik zunehmend: durch ein grimassierend hinabstürzendes Glissando des Klaviers über sieben Oktaven und Störpunkte, gesetzt vom Schlagzeug. So wird das Als-ob des Zitats überdreht und kommt in eine Beschleunigung, die wie abgeschnitten abbricht. In die durch die entfesselte Kraft betäubte Stille treten zart zwei Kinderstimmen, ein Sopran, ein heller Tenor mit einer Art Wiegenlied, das Medeas Kinder paradoxerweise selbst anstimmen - wo ist die Mutter, die es ihnen sänge? "Hush, little Baby, don't say a Word". Thomalla, der seit Jahren in den USA lebt und lehrt, verwendet eine dort sehr bekannte traditionelle Weise, fasst sie in traumverlorene Klänge, in denen die beiden Stimmen sich über schmerzliche Halbtonverschiebungen immer wieder im Unisono suchen. Mit einem simplen kompositorischen Mittel, der Rückung, dreht er geistvoll an der Schraube szenischen Komponierens.

Die getöteten Kleinen singen ihr Wiegenlied

Anna Viebrock, diesmal neben Bühnenbild und Kostümen auch für die Regie verantwortlich, spiegelt die künstliche Ebene der Musik unerhört feinsinnig in der Darstellungsweise, ohne etwas zu verdoppeln. Ein mit großbürgerlichen Stilmöbeln gesetzter Rahmen deutet Naturalismus an; tatsächlich agieren die erwachsenen (wunderbaren) Sänger Julia Spaeth und Carlos Zapien auf beklemmende Weise wie schüchterne Kinder, deren großäugige Welt keine Schuld kennt. Das drohende Unheil scheint umso würgender. Viebrock traut aber psychologischer Einfühlung nicht, verzweifacht Medea, der sie die ikonografischen Merkmale der späten, privaten Maria Callas gibt: streng nach hinten gebundenes schwarzem Haar, markante Brille, das Spiel der ausduckvollen Arme. So ist einmal eine domestizierte Kunstfigur Medea zu sehen - Callas hatte zur Wiederentdeckung von Cherubinis Oper maßgeblich beigetragen -, und zugleich die archaische Zauberin Medea aus Kolchis. Die Magierin wird von der Tänzerin Geniviève Motard gespielt, Annette Seiltgen ist ihre singende Verkörperung und verhilft dem Abend durch ihre Durchdringung dieser gewaltigen Partie hochdramatischen Zuschnitts zu seiner Größe.

Medea vergiftet ihre Kinder, und wie Thomalla das gestaltet, muss und kann nur gehört werden. Chromatische, rasende Figuren der Medea und des Orchester wirbeln als Reste konventioneller opernhafter Ausdrucksgesten, etwa Koloraturen, in einer von großer Hand in Betrieb gesetzten Zentrifuge, zerfallen, laufen aus. Nach der Tat flüstert Medea, tonlos, "vollkommen unhörbar" steht in der Partitur, "E che? Io son Medea! - Doch wie? Ich bin Medea!" Ihr gegenüber steht das fremde Selbst. So also komponiert man das Entsetzen, den Verlust aller menschlichen Gefühle. Der folgende brutale Akkord, alle zwölf Töne des westlich-abendländischen Tonsystems in siebenfachem Forte, rammt in dieses Nichts die Totalität aller Musik und ist darin natürlich in reiner Dialektik: nichts.

Hans Thomallas Oper ist nicht allein ein Versuch über den Medea-Mythos mit seinem Generalthema der Fremdheit, sondern ein Versuch über die musikalische Sprache. Das Resultat "Fremd" ist ebenso unaufdringlich wie virtuos und vor allem von wirklicher theatraler Kraft: plastisch, gestisch, körperhaft. Allein die Vorgeschichte, die Zeichnung der Argonauten als Kollektiv, ihr und Jasons Zusammentreffen mit Medea, beider verschiedene Artikulationsweisen, wäre eine eigene Analyse wert. Ebenso Thomallas nie aufdringliche Orchesterbehandlung (grandios das Intermezzo für Orchester), mit in den Raum verteilten drei Instrumentalgruppen - Johannes Kalitzke und das Staatsorchester leisten bewundernswürdiges. So etwas geht eben nur im subventionierten Musiktheater mit seinen gewachsenen Strukturen.

Zu denen gehört der Chor, Leitung Michael Alber, der mehr als ein Jahr die anspruchsvolle Partitur mit vielen Soli einstudiert hat, wahrscheinlich das Schwerste, was ein Opernchor heute stemmen kann. Dass der Staatsopernchor aus seinen Reihen den Jason-Sänger Stephan Storck stellen kann, spricht für sich. Und so fällt dem singenden Kollektiv der Schluss zu, ein magisch leiser A-capella-Satz, in dem die Natur, der Mensch zu einer musikalischen Sprache (zurück-)findet. Ein großer Abend, der langen, stillen Beifall fand.

Aufführungen 6., 9. und 13. Juli

Der Medea-Mythos

Handlungskern: Die zauberkundige Medea aus Kolchis verliebt sich in den Argonautenführer Jason und raubt mit ihm das Goldene Vlies. Sie fliehen nach Korinth. Dort verstößt Jason Medea, um die Tochter von König Kreon zu heiraten. Medea tötet ihrer beider Kinder.

Textfassungen: Hans Thomalla verwendet Textteile aus dem Argonautenepos des Apollonios von Rhodos und dem Drama „Die Argonauten“ von Franz Grillparzer sowie aus dem Monolog der Medea in Luigi Cherubinis gleichnamiger Oper in italienischer Fassung (1797).