Nathalie Oppenheim hat sich zu einer Lesung überreden lassen. Eine nassforsche Journalisten nervt sie mit Fragen. Rezas Stück „Ihre Version des Spiels“ hatte nun in Berlin Premiere.

Berlin - Man sollte den Literaturbetrieb meiden. Das weiß jeder, aber jeder weiß auch, wie leicht das gesagt ist. Wer sich in den Literaturbetrieb hineinbegibt, kommt natürlich darin um, aber er hat immerhin die Chance zu entscheiden, wie. Yasmina Reza hat aus dieser Chance ihr neues Stück gemacht, und nachdem sie mit der Verfilmung von „Gott des Gemetzels“ ihren Ruf als witzig-pointierte Entlarverin des Kulturbürgertums auf die Spitze trieb, nimmt die Sache jetzt eine neue Wendung. „Ihre Version des Spiels“ dreht sich um die Rolle der Schriftstellerin selbst, also um die Maske, die sich Yasmina Reza aufsetzt und dann auf raffinierte Weise wieder absetzt. Den Moment dieses Absetzens aber kann man nur im Nachhinein erahnen.

 

Rezas Hauptfigur Nathalie Oppenheim ist wie ihre Erfinderin eine Schriftstellerin, die eigentlich keine Lesungen macht und kaum Interviews gibt. Plötzlich aber findet sie sich in der Mehrzweckhalle von Vilan-en-Volène wieder. Dort trifft sie auf Alexander Khuon als provinziellen Literaturveranstalter und heimlichen Lyriker Roland. Er verhaspelt sich bei der Begrüßung, spult die üblichen Floskeln mit Dank an die Mitarbeiterinnen und Ablehnung des Kommerzes ab und löst genau jene Mischung aus Belustigung und Fremdschämen aus, die einen bei den üblichen Literaturfestivals zwangsläufig überfällt. Dass auch er Tragik in sich birgt, wird nur allmählich deutlich.

Nassforsche Journalistin in hochhackigen Stiefeln

Die Schriftstellerin Nathalie muss aber vor allem die zeitgemäßen Fragen der Journalistin Rosanna über sich ergehen lassen. Katrin Wichmann spielt diesen nassforschen, bescheidwisserischen Schmalspur-Medientypus so, dass sie bei jedem innovativen Literaturtalk-Format in Kulturzentren wie im Fernsehen sofort genommen werden müsste: in hochhackigen Stiefeln, mit hochhackigem Lächeln, mit unanfechtbarer Künstlichkeit. Ständig setzt sie Nathalies Romanfiguren mit autobiografischen Bekenntnissen der Autorin gleich und fühlt sich dabei investigativ und toll. Wir sind mitten im Albtraum einer landläufigen Schriftstellerexistenz: man kriegt die wichtigtuerischen Funktionäre und Multiplikatoren einfach nicht los.

Das Ereignis des Abends aber, so sehr er auch als Ensemblespiel angelegt sein mag, ist Corinna Harfouch als Nathalie. Sie findet ständig neue Möglichkeiten, die Anlage des Stücks und die Inszenierungsideen von Stephan Kimmig umzusetzen – „Ihre Version des Spiels“ geht weit über Persiflage und den allseits geschätzten höheren intellektuellen Boulevard hinaus. Harfouch irritiert. Ihre Figur der Schriftstellerin wechselt zwischen verschiedenen Erscheinungsformen hin und her.

Mal spielt sie die öffentliche Rolle als professionelle Schriftstellerin, die gekonnt die abrufbereiten Antworten sagt, dann kippt sie um in unberechenbare Emotionen und Bekenntnisdrang und leidet unter der Zumutung, unter dem öffentlichen Auftreten. Dabei gibt sie zickig und kokett etliche Facetten von Eitelkeit und Theatralik preis. Ihre verschiedenen Formen des Ächzens und Seufzens nach scheinbar wohlplatzierten und durchdachten Auskünften setzen die bekannten Muster von Rezeption und Einordnung außer Kraft. Gerade das Überzeichnete, das Melodramatische, das Überzogene – sie werden von Harfouch und Kimmig auf perfide Weise instrumentalisiert.

Ein anbiedernder Bürgermeister

Beim abschließenden Cocktailempfang legt Yasmina Reza ihre Erfahrungen, die sie bei der Beobachtung des Wahlkampfs von Nicolas Sarkozy gemacht hat, in der Figur des örtlichen Bürgermeisters (Sven Lehmann) an. Der reiht pausenlos die üblichen Versatzstücke aus Anbiederung und kenntnisreichem Gegen-den-Strich-Bürsten aneinander, und währenddessen überstürzen sich die Ereignisse: der Bibliothekar Roland setzt sich auf Geheiß des Bürgermeisters ans Klavier und spielt Gilbert Bécauds unverwüstliche russische „Nathalie“, während die urfranzösische Schriftstellerin Nathalie ausrastet und einen ausschweifenden Tanz vollführt, der Roland seinerseits in verzweifelte sexuelle Rage versetzt. Dass Rolands einfühlsamer und inniger Einladungsbrief die eigentlich vorleseunwillige Nathalie nach Vilan-en-Volène gebracht hat, wo sie nie hinwollte, liegt wie ein fauler Zauber über der Szene und legt in ihr verborgene Sehnsüchte frei.

Dass die Kammerspiele des Deutschen Theaters wirklich Kammerspiele sind, ein intimer Raum, ist eine listige Finte, diese als Groß-Event gehandelte Uraufführung in Szene zu setzen. Die relativ wenigen Zuschauer, die im Bühnenbild von Katja Haß Platz finden, sehen sich zu Beginn wie Easy-Jet-Passagiere in einen Pferch zwischen den nach zwei Seiten ansteigenden Sitzplätzen gepresst, und beim Hinaus- wie beim Hineingehen befindet sich der Zuschauer mitten in dem Kraftfeld, das Yasmina Reza mit ihrer Schriftstellerfigur Nathalie aufbaut. Denn in einem schmalen Gang passieren die Zuschauer unter anderem eine Tür mit dem Garderobenschild von Corinna Harfouch, und dabei stehen die Bühnenangestellten Spalier und betrachten die Zuschauer, als ob diese die wirklichen Akteure seien.

Wir sind alle in Vilan-en-Volène, ob wir wollen oder nicht. Und wir bleiben mit Roland, dem Bibliothekar, zurück. Nur die unerreichbare Schriftstellerin geht, zertrümmert zwar – und hoffnungslos ihren Träumen ausgesetzt, aber sie geht von dannen.