Schrebergärten, Vorgärten oder Parks: in Stuttgart ist nun ein Trend endgültig angekommen, bei dem das Gemeinschaftserlebnis im Garten im Mittelpunkt steht. Eindrücke von einem Frühlingserwachen in der Großstadt.
Stuttgart - Das Märchenreich liegt verborgen hinter einem rostigen Eisentor. An einer Seite wird es von einer struppigen Distelhecke umrankt, deren Blüten wie kleine Wattebäusche im Gestrüpp hängen. Das trübe Licht der Wintersonne funkelt plötzlich, als es von der Discokugel eines benachbarten Clubs reflektiert wird. In der Krone eines Baums hockt eine bucklige Krähe, die sich nicht stören lässt vom fernen Lärm der Lastwagen, der leise an diesen verwunschenen Ort anbrandet. Welche Schätze aber könnten sich hier verbergen, wo Holzlatten, Eisenrohre und Sonnenschirme an der Wand eines rot geklinkerten Backsteinbaus lehnen?
Vier Großstadtkinder im Alter von Mitte 30 bis Mitte 40 haben sich an diesem Februarmorgen auf dem Gelände des alten Stuttgarter Güterbahnhofs verabredet. Sie kennen den Zaubercode, der ihnen den Zugang in diese für die meisten Stuttgarter entlegene Welt öffnet. Der Code besteht aus den vier Zahlen eines Schlosses, dessen Bügel lautlos aufspringt. Schon betritt Birgit Haas eine städtische Brache, bei der erste Zeichen einer Verwandlung unübersehbar sind: Einkaufswagen sind zu einem Kreis angeordnet, in den Wagen lagern Kisten, und in den mit Erde gefüllten Kisten sprießt Ackersalat. Trotz Nachtfrost und gelegentlichem Schneefall.
Hier, wo im Club Zollamt sonst das Partyvolk seine Nachtschichten verbringt, wo ein Küchenstudio in einem alten Industriebau in friedlicher Koexistenz mit einer Kampfkunstschule lebt, beginnt in diesem Jahr eines der interessantesten Wachstumsprojekte der Stadt: Urban Gardening. „Inselgrün“ nennt sich der Stuttgarter Ableger der Bewegung, die seit Jahren rund um den Globus Menschen inspiriert, zu Hacke und Schaufel zu greifen, mit den Händen in krumiger Erde zu graben, sich lustvoll die Finger schmutzig zu machen und dann auf die Belohnung zu warten: dass etwas wächst, am besten etwas Essbares. Gurken, Tomaten und Zucchini, Bohnen oder Ackersalat. In diesem Jahr könnte auch in Stuttgart der endgültige Durchbruch der Bewegung folgen: In Facebook-Gruppen melden sich immer mehr Neugärtner, und die Stiftung Geißstraße lädt in der nächsten Woche zu einem Informationsabend ein: „Grüne Heimat – Urban Gardening in Stuttgart“.
Vor den Stadtgärtnern liegt noch viel Arbeit
Birgit Haas wird dabei sein. Sie trägt einen pinkfarbenen Parka mit Kunstfellkragen. Haas ist die Gartenexpertin der Gruppe, die sich an diesem Tag versammelt hat, um darüber zu reden, wie aus der Industriebrache in diesem Frühjahr und Sommer ein Mitmachgarten werden kann. Bei den Teilnehmern dominieren Sneaker und Baseballkappe, Jeans und ein zwangloser Umgangston. Die grünen Novizen stammen aus der Agentur- und Kreativszene. Birgit Haas hat Kunst in Nordirland studiert und zehn Jahre in Belfast gelebt. Inzwischen wohnt sie in Stuttgart, wo sie eine Handelsagentur gegründet hat, die sich mit den Chancen von „Gärtnern ohne Gift“ beschäftigt. „Ich bin bestens in der grünen Branche vernetzt“, erzählt Haas.
Die Kontakte wird sie brauchen, noch liegt viel Arbeit vor den Stadtgärtnern, bevor aus der Brache wirklich ein Inselgrün wird, das diesen Namen auch verdient. Die bepflanzte Installation aus Einkaufswagen ruht noch auf einem Teppich aus Moos, Steinen und abgestorbenem Gras. Im vergangenen Sommer entstanden die erste Pläne, den alten Güterbahnhof wieder aufblühen zu lassen. „Wir sind erst mal mit der Säge hier durchgegangen“, erzählt Franz Gielen. Es war der erste Schritt, um das Dornröschenreich aus einem langen Schlaf aufzuwecken. Am Ende füllten der Wildwuchs und der wilde Müll fünfzehn Container. Im März steht der nächste Frühjahrsputz auf dem Gelände an, und danach beginnt die zweite Stufe der Stadtbegrünung.
Im Kopf von Birgit Haas summen schon die Ideen herum: „Wir wollen alte Sorten von Nutzpflanzen anbauen, aber auch dekorative Blumen sollen hier ihre Heimat finden.“ In Workshops will sie Kindern beibringen, wie sie zu Hause mit ihren Eltern die Balkone bepflanzen können. Und weil am Rande des Inselgrüns schon jetzt der Schmetterlingsflieder wächst, der in der warmen Jahreszeit die Bienen anlockt, denken die Inselpioniere darüber nach, ob sie neben den neuen Hobbygärtnern ein Bienenvolk mit aufnehmen wollen.
„Landeplatz für alle, die auf der Frequenz sind“
Noch ist das Zukunftsmusik, doch das Projekt „Inselgrün“ scheint in der Stadt auf fruchtbaren Boden zu fallen. Kürzlich hat die Stuttgarter Messe bei der Initiative angerufen und den jungen Gärtnern einen 80 Quadratmeter großen Stand angeboten. Schon jetzt ist klar, dass die Messebesucher im April vor einer grünen Begegnung der ungewöhnlichen Art stehen werden: „Die Leute können Secondhandklamotten mitbringen, die wir dann mit ihnen bepflanzen werden“, sagt Magali Sureau. Mit den bepflanzten Einkaufswagen wollen die Urban Gardener nicht nur auf der Messe, sondern auch auf Stadtfesten in diesem Jahr ihre Kreise ziehen und für das gemeinschaftliche Gärtnern in der Großstadt werben. Die Idee hat auch schon einen Namen: „Garten geht Gassi.“
„Wir sind doch alle Großstadtkinder, die nicht mehr wissen, was man wie anpflanzt“, sagt Magali Sureau. Auf dem Gelände in Bad Cannstatt soll allen, die Lust aufs Gärtnern haben, das kleine Einmaleins des Säens, Düngens und Pflanzens beigebracht werden. „Wir verstehen uns dabei als Landeplatz für alle, die auf der Frequenz sind“, sagt Birgit Haas lächelnd. „Diejenigen, die dabei mitmachen wollen, tragen auch gemeinsam die Verantwortung für den Garten.“ Im Sommer wollen die Stadtgärtner mit dem Biergarten des Clubs Zollamt sonntags „Antistresstage“ starten. Die Zutaten: Liegestühle, ein Sandkasten, Bier, Erde und Schaufeln. Irgendwann wollen sie dann ernten, was sie gesät haben, nicht nur in Bad Cannstatt.
Eine gewundene Treppe führt hinauf in eine auf zwei Etagen verteilte Altbauwohnung, in der Irmgard Lochner-Aldinger gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn wohnt. Knapp zehn Kilometer trennen die Inselbegrüner auf der anderen Neckarseite von der Professorin, die im Stuttgarter Süden wohnt. Bildungsbürgertum statt Berlin-Mitte-Flair. Doch das Ziel ist dasselbe.
Urban Gardening ist in Stuttgart noch ein zartes Pflänzchen
Die 42-Jährige blickt vom Balkon aus noch einmal auf die Stuttgarter Dachlandschaft. Dann schließt sie die Tür und streift die weißen Handschuhe mit dem rot gepunkteten Erdbeermuster ab. Vor einiger Zeit hat sie beschlossen, die Wohnzimmerpflanzen aufzugeben, seitdem ist es auf ihren beiden Balkonen voller geworden. Im Herbst leuchteten die Blätter eines Ahorns strahlend rot, er steht neben einem Rosenstock und Johanniskraut. In der Küche wächst neben Thymian, Basilikum und Minze auch eine Bauernrose. Deren Samenkapseln hat Irmgard Lochner-Aldinger im Urlaub von einer kleinen Insel vor der französischen Atlantikküste mitgebracht.
Die deutsch-französische Pflanze besitzt für das, was Irmgard Lochner-Aldinger vorhat, Symbolwert. Sie denkt an „internationale Gärten“ in Stuttgart – daran, dass Urban Gardening mehr sein kann als nur ein Freizeitvergnügen der von Technik umwucherten Stadtbewohner. Die Ingenieurin hofft, dass sich bei Gemeinschaftsprojekten wie „Inselgrün“ Stuttgarter aus allen möglichen Herkunftsländern begegnen, um gemeinsam zu gärtnern. Der Dialog der Kulturen könnte sich dann so anhören: „Was macht ihr eigentlich gegen Schädlinge? Welche Pflanzen vertragen sich in einem Beet?“ So könnte einmal zusammenwachsen, was zusammengehört und bislang in der Anonymität der Großstadt oft nebeneinander herlebt.
So weit die Theorie. In der Praxis ist das Urban Gardening in Stuttgart bis jetzt ein zartes Pflänzchen, das im Betonmantel der Stadt mühsam seine Nischen sucht. In der Vergangenheit ist es immer wieder zu Konflikten zwischen pflanzwütigen Anwohnern und dem städtischen Garten- und Friedhofsamt gekommen. Den Behörden behagt es mitunter nicht, wenn Bürger auf eigene Faust Beete rund um die Stadtbäume anlegen. „Es besteht schon die Gefahr, dass die Leute wieder die Lust verlieren und sich dann nicht um das Angepflanzte kümmern“, sagt Irmgard Lochner-Aldinger, „deshalb brauchen wir verbindliche Absprachen.“
Parkhäuser als städtische Gartenlandschaften?
Noch wichtiger sind jetzt aber Ideen, über die sie nach ihrem Vortrag in der Stiftung Geißstraße diskutieren will: Wo gibt es in Stuttgart geeignete Flächen, auf denen in der Stadt neues Grün entstehen könnte? Wie können sich die Bürger konkret engagieren? Urban Gardening ist weltumspannend, aber es nimmt je nach Kulturkreis unterschiedliche Formen an. In New York gab es früher die Community Gardens, die auf Brachen entstanden. Inzwischen wird in Big Apple mehr über grüne Dachlandschaften gesprochen. Auf Kuba wurden die Staats- und Gemeinschaftsgärten auch aus der Not heraus geboren, und im Berliner Prinzessinnengarten lebt die anarchistische Seite der früheren Mauerstadt fort.
Irmgard Lochner-Aldinger wischt mit dem Finger über ihr iPad. Auf einem Foto ist das Dach des Züblin-Parkhauses bei der Leonhardskirche zu sehen. Doch dort, wo sonst Autos parken, wachsen nun Pflanzen aus Kisten und Säcken heraus. Grün statt Grau. Noch ist das Foto eine Bildmontage, aber Irmgard Lochner-Aldinger hat bereits mit einer Künstlergruppe gesprochen, die sich vorstellen könnte mitzumachen, und auch die Betreiberfirma des Parkhauses sei nicht abgeneigt, erzählt sie. Parkhäuser, die sich in städtische Gartenlandschaften verwandeln? Das wäre fast eine Geschichte wie aus Tausendundeiner Nacht.