Viele Initiativen, die Universitäten und auch die IBA beschäftigen sich mit dem Thema Urbane Gärten. Vertikale Gärten spielen dabei keine Rolle mehr. Und die Diskussion über knappe Flächen in Stuttgart hält der IBA-Intendant für falsch.
Stuttgart - Das Anbauen von Kräutern, Gemüse und Obst in Blumentöpfen im Wohnzimmer oder auf Balkonen, Terrassen oder Hinterhöfen ist in Krisenzeiten schon immer beliebt gewesen, gerade auch in Großstädten. Das war in der Finanzkrise vor gut zehn Jahren so, als Bankmitarbeiter rund um Frankfurt plötzlich nach Schrebergärten suchten. Und es ist in der Corona-Krise nicht anders. Die Bau- und Pflanzenmärkte waren in den vergangenen Tagen voll, obwohl es für das Rauspflanzen noch viel zu früh ist und so manche jetzt schon aufgegangene Obstbaumblüte die aktuellen Nachtfröste nicht gut überstehen dürfte.
Urbanes Gärtnern ist Teil des Garten-Booms
Vor einigen Tagen, als die Virus-Pandemie gerade erst in Stuttgart ankam, haben sich interessierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Städten, Gemeinden, Verbänden und anderen Einrichtungen im Hospitalhof getroffen, um sich mit dem Thema zu beschäftigen. „Selbst isst die Stadt. Was kann Urbanes Gärtnern für das grüne Quartier leisten?“ war der Titel der Veranstaltung in der Reihe Impulse für die IBA, an der unter anderem auch der Intendant der IBA ’27, Andreas Hofer, teilnahm.
Urbanes Gärtnern ist eine eigene Spielart des Gärtner-Booms des vergangenen Jahrzehnts. Berlin hat seinen Prinzessinnengarten, in Leipzig betreibt die ANNALINDE gGmbH „multifunktionale urbane Landwirtschaft“ in der Stadt, in Bremen haben Anwohner aus der großen Beton-Ödnis des Lucie-Flechtmann-Platzes die weit über Bremen hinaus bekannte innerstädtische grüne Gartenoase Lucie gemacht. Bundesweit gibt es inzwischen rund 700 urbane Gartenprojekte, die auch untereinander vernetzt sind. Ein Charakteristikum all dieser Projekte ist, dass in ihnen Menschen unterschiedlichster Herkunft, mit weit auseinandergehenden Bildungs- und Einkommensniveaus gemeinsam etwas schaffen und so für mehr Grün mitten in der Stadt, für mehr selbst angebautes Gemüse im eigenen Kühlschrank und für mehr Gemeinsamkeit im Stadtviertel sorgen.
Viele Initiativen in der Stadt
Auch in Stuttgart gibt es viele Menschen, die urban gärtnern oder die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema beschäftigen. Es gibt die Beete auf dem Dach des Züblin-Parkhauses mitten im Stadtzentrum, den Stadtacker bei den Wagenhallen in Stuttgart-Nord, den Garten Inselgrün der Kulturinsel in Bad Cannstatt, den Verein Chloroplast in einer ehemaligen Gärtnerei in Weilimdorf oder den Reifengarten in Untertürkheim, der so heißt, weil die Beete in ausgedienten Lkw-Reifen angelegt sind. In Gruppen im Garten oder an Hochbeeten zu arbeiten, ist in diesen Tagen zwar keine gute Idee. Aber die Initiatoren sind alle in den Sozialen Netzwerken im Internet zu finden, immer offen für neue Interessenten und geben gerne Tipps.
An der Universität Hohenheim wird sowieso zu dem Thema geforscht, am Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (Zirius) der Universität Stuttgart läuft noch bis März 2022 das Forschungsprojekt GartenLeistungen mit dem etwas sperrigen Untertitel „Urbane Gärten und Parks: Multidimensionale Leistungen für ein sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltiges Flächen- und Stoffmanagement“ und das Jahresthema der Internationalen Bau-Ausstellung (IBA) lautet in diesem Jahr „Stadtklima und Grünräume“.
Sich selbst versorgende Stadt ist Utopie
Bei der Veranstaltung im Hospitalhof wurde unter anderem mit der etwas romantischen Idee der sich selbst versorgenden Stadt aufgeräumt. Bastian Winkler von der Uni Hohenheim, der auch in der IBA-Arbeitsgruppe „Produktive Stadt“ mitwirkt, bezeichnete die Vorstellung, dass eine ganze Stadt per Urban Gardening mit frischem Obst und Gemüse versorgt werden könnte, als utopisch. Auch das Modethema vertikaler Gärten beispielsweise an Hochhäusern hat bei Experten keine Chance, weil der Aufwand viel zu groß und die Energiebilanz viel zu schlecht ist.
IBA-Intendant Hofer schreibt in einem Anfang März veröffentlichten Diskussionsbeitrag zum Beispiel des Hochhauses Bosco Verticale in Mailand: „Hat es etwas mit ökologischem Bauen zu tun, wenn in einem an sich schon problematischen Hochhaus mit zusätzlicher Bautechnik und kostspieliger Fassadentechnik Luxusappartements mit horrenden Nebenkosten angeboten werden? Wie dauerhaft sind Häuser, die von spezialisierten Alpinisten gepflegt und gewartet werden müssen?“ Und er stellt fest: „Es würde Jahrzehnte dauern, bis das künstliche Grün des Bosco Verticale die CO2-Emissionen der zusätzlich verbauten Materialien nur schon kompensiert hätte.“
Bäume gehören auf den Boden
Für Andreas Hofer gehört Grün nicht an die Fassaden, sondern an seinen originären Platz, auf den Boden. Und die in Stuttgart gerne geführte Diskussion, dass es keinen Platz für mehr Grün in der Stadt gebe, hält er für falsch. Seiner Meinung nach gibt es die Flächen, wie er bei der Diskussion im Hospitalhof sagte. Und man müsse sie nutzen, um die Aufenthaltsqualität zu verbessern. „Aber hier geben wir dem Verkehr auf schwarzem Asphalt fast die Hälfte der Siedlungsfläche.“ Deswegen störe ihn diese Knappheitsdiskussion.
Er fasst die Aufgabe für die Stadtgestaltung so zusammen: „Der Stadtboden als durchlässiger Raum gehört den Fußgängern, dem Wasser und den Bäumen. Die Fassaden sind die Gesichter der Häuser zu Straßen und Plätzen. Und die Dächer bieten Raum für Energiegewinnung, Moose, Flechten und Insekten.“ Und in Einzelfällen spreche nichts dagegen, „wenn ein öffentlicher Raum zum Gemeinschaftsgarten wird“. Beispiele dafür gibt es in Stuttgart schon, wie der Reifengarten auf dem Karl-Benz-Platz in Untertürkheim oder Gemeinschaftsbeete auf dem Schützenplatz in Stuttgart-Mitte. Und den urbanen Garten-Initiativen in Stuttgart würden bestimmt noch viele Flächen in der Stadt einfallen, denen ein bisschen Gemeinschaftsgrün gut tun würde.