Vor hundert Jahren startet in der österreichischen Hauptstadt ein beispielloses Projekt, das im volkspädagogischen Denken weit über den sozialen Wohnungsbau hinaus geht.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Seit es den Menschen gibt, und es gibt ihn ja schon ein paar Tage, träumt er davon, den Menschen neu zu erfinden. Das hat im Gesamtanspruch selten richtig geklappt, aber manchmal stellen sich dann doch ein paar geglückte historische Bezüge fast wie auf Bestellung ein: Das gerade 70 Jahre alte werdende Grundgesetz, buchstäblich aus der Not geboren, hat in erzieherischer Hinsicht seine Wirkung nicht verfehlt, vielleicht auch deshalb, weil viel Pragmatismus, wenig Größenwahn und doch Idealismus bei der Projektierung walteten.

 

Ähnlich verhält es sich mit dem praktischen Plan, wie man in einer Großstadt mehr Miteinander schaffen könne, der von Anfang Mai 1919 an in Wien umgesetzt wurde – ein Musterbeispiel der Vergesellschaftung, durchsetzbar nur, weil seit dem 4. Mai die Sozialdemokraten mit absoluter Mehrheit regierten, was bis 1934 und bis zur unseligen Dollfuß-Schuschnigg-Regierung anhielt. 15 Jahre Sozialhygiene immerhin waren möglich, und man darf dies wörtlich nehmen: Beflügelt durch die Tatsache, dass Wien seit 1920 ein eigenständiges und steuerhoheitliches Bundesland darstellte, wurde über, unter und vor allem hinter den Trümmern des Kriegs das Rote Wien gebaut.

Man war doppelt urban

Fußend auf den pädagogischen Schulreformgedanken von Otto Glöckel, die eine klassenlose Bildung garantierten, und formal innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems wurde der Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft durch Kulturalisierung eingeschlagen: Bis Ende 1933 entstanden 70 000 Wohnungen, die an ein Netz der Fürsorge angeschlossen waren: Klein- und Kleinstvermietungen (meist um die 40 Quadratmeter mit eigener Toilette) wurden über die ganze Stadt hinweg gestreut und mit Innenhofgärten, Kindergärten, Gemeinschaftsbädern und Büchereien versehen. Volksbildung war großgeschrieben, keine Phrase, und überhaupt schien plötzlich ein alter Traum wahr geworden: Wer hinter den Ziegelmauern zum Beispiel des Karl-Marx-Hofes zu wohnen kam, lebte in Wien, aber auch in einer eigenen Stadt. Man war doppelt urban und gleichzeitig auf Großfamiliarität angewiesen. Elend, das es weiterhin gab in der Stadt, wurde hier versorgt und nicht sich selbst überlassen.

Wüsteste neoliberale Konsequenzen

In der Nachkriegszeit durfte Österreichs Hauptstadt vom renovierten Erbe des Wohnungsbaus zehren und tut es bis heute, denn innerlich hat sich die Stadt niemals vom Gedanken des Roten Wien verabschiedet, obwohl das Rathaus in den letzten Jahrzehnten auf seinem ureigenen Gebiet nur sehr zögerlich noch agiert hat. Anders jedoch als in England, wo Maggie Thatcher das „right to buy“ eingeführt hatte, das zu wüstesten neoliberalen Konsequenzen auf dem Wohnungsmarkt führte, oder in Deutschland, wo der Skandal um die Neue Heimat den sozialen Wohnungsbau nachhaltig stigmatisierte, ist Wien eine Stadt der Seligen.

60 Prozent der Bevölkerung wohnen in gefördertem Wohnungsbau, 220 000 allein im Gemeindebau – was kein Menetekel ist, sondern ein Privileg. Die Wohnungen sind im Prinzip unkündbar, die Preise stabil. Wien gehört, jedes neoliberale Ranking bestätigt das ironischerweise, zu den lebenswertesten Städten dieser Welt. Dass die heutige österreichische Sozialdemokratie aus den sozialen Lektionen des historischen Roten Wiens keine Schlüsse mehr zieht (und wenn, dann falsche), gehört zu den Zynismen der Geschichte.