Kurz nach der Tagesschau wurde am Sonntag der Tatort um 15 Minuten verschoben. Die deutsche Komikerin, Autorin und Schauspielerin Carolin Kebekus hat mit der Sendung „KINDER stören“ das Programm übernommen. Kinder durften in der von ihr moderierten Sendung auf ihre Probleme und Anliegen aufmerksam machen. Es ging um Themen wie Cybermobbing, Gewalt gegen Kinder, Kinderarmut, mangelnde Sport- und Betreuungsangebote sowie darum, ob Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen.
Es ist dringend nötig ist, dass die Rechte und Belange von Kindern sowie deren psychische Gesundheit mehr in den Fokus rücken, darauf machte in der vergangenen Woche auch ein Bericht im amerikanischen Wissenschaftsmagazin „Lancet Psychiatry“ aufmerksam. Die beteiligten Wissenschaftler warnten darin vor einer globalen „psychischen Krise“ bei Kindern und Jugendlichen weltweit.
Die Forscher sprechen von einer schweren Krise
Man sei in eine „gefährliche Phase“ eingetreten, hieß es in dem Bericht. Zusammenhalt und Wohlstand von Gesellschaften stünden weltweit auf dem Spiel. Die internationale Expertenkommission hat die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen untersucht. Und die wird weltweit immer schlechter.
Das internationale Forscherteam wertete zig Studien aus und kam zu dem Ergebnis, dass bei Kindern und Jugendlichen psychische Erkrankungen weltweit stark zunehmen, so das Ergebnis. Insbesondere Angststörungen und Depressionen sind weit verbreitet. Als eine der Ursachen sehen die Forscher gesellschaftliche Probleme, Vernachlässigung der Belange der Kinder und Jugendlichen durch die Politik und das Gesundheitssystem. Die Autoren sprechen von einer „düsteren Gegenwart und Zukunft“ für junge Menschen.
Julian Schmitz ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut sowie Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig und leitet die dortige Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche. Er beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschung und seiner täglichen Arbeit seit Jahren mit den Belangen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Der Bericht von Lancet bezieht sich auf die Entwicklung der letzten zehn Jahre. „Davor war die Häufigkeit auch schon hoch, wir beobachten schon seit langem eine Zunahme“, sagt Schmitz. Dies hänge auch damit zusammen, dass psychische Krankheiten immer besser verstanden werden und sie dadurch auch besser diagnostiziert werden. „So können wir sie auch besser entdecken“, sagt er.
Dazu kommt eine seit Jahren zunehmende Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen. Früher waren Diagnosen wie ADHS oder Depressionen bei Kindern und Jugendlichen seltener, was auch daran liegen könnte, dass kaum darüber gesprochen wurde, aber auch das Wissen darüber noch nicht so fundiert war. Heute ist es vor allem in sozialen Netzwerken üblich geworden, mit den eigenen seelischen Erkrankungen sehr viel offen umzugehen. „Aber wir sind lange noch nicht dort, wo wir bei körperlichen Krankheiten sind“, sagt Julian Schmitz. „Mit einem gebrochenen Bein gehen Kinder eher noch stolz in die Schule, weil sie ihren Gips zeigen können.“
Auch soziale Netzwerke und globale Dauerkrisen haben einen Einfluss
Doch das ist es nicht allein. „Die Zahlen sind auch objektiv gestiegen“, sagt Schmitz. Was die Gründe dafür sind? Darauf gebe es keine einfachen Antworten. Zwar seien Depressionen, Ängste oder Essstörungen besonders während der Pandemie weltweit stark angestiegen. „Im Übrigen auch in Schweden, trotz deren eher liberalem Umgang.“
Dennoch hätten vermutlich globale Dauerkrisen wie die Klimazerstörung, die Pandemie, die Inflation und der russische Krieg in der Ukraine ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl von Kindern und Jugendlichen, sagt Schmitz. „Über soziale Netzwerke wie Instagram und Tiktok rückt das viel näher an sie heran.“
Auch die Zunahme der Nutzung von sozialen Medien statt persönlichem Kontakt, sei ein Punkt. So sei es seltener geworden, dass man sich gegenseitig anrufe oder persönlich treffe. „Aber Jugendliche werden nicht alle durch Social Media kränker heute“, betont der Forscher. Es sei mehr ein Katalysator.
Insgesamt ist er der Auffassung, dass die Belange von Kindern und Jugendlichen zu wenig beachtet werden – politisch und gesellschaftlich. „Ihre Rechte und Anliegen werden so stark negiert“, sagt Schmitz.
Eine von der Universität Bielefeld im Juli durchgeführte Sozialstudie zum Thema Gerechtigkeit unter 1230 Kindern (sechs bis elf Jahre) und Jugendlichen (zwölf bis 16 Jahre) ergab, dass sich über 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen häufig „machtlos und unzufrieden“ fühlen. Sie glauben, keinen Einfluss auf Politik zu haben. Jeder zweite Jugendliche zweifelt sogar daran, dass Politik, Probleme überhaupt lösen zu wollen.
Zudem beginnen laut verschiedenen wissenschaftlichen Studien psychische Störungen bereits im Kindes- und Jugendalter. In einer Metaanalyse, in der die Forschenden 192 epidemiologische Studien mit mehr als 700 000 Menschen auswerteten, zeigte sich, dass die meisten psychischen Störungen früh beginnen: Bei 35 Prozent der Patienten traten sie bereits erstmals vor dem 14. Lebensjahr auf. Bei 48 Prozent begannen sie bis zum Alter von 18 Jahren, bei 63 Prozent bis zum Alter von 25 Jahren.
Das liegt auch daran, dass dies eine besonders vulnerable Phase ist, junge Menschen beginnen sich von ihrem Elternhaus abzulösen, die Pubertät beginnt, der Körper verändert sich und sie müssen die ersten Weichen für die spätere berufliche Werdegang legen.
Frühe Behandlung ist wichtig, damit Beschwerden sich nicht chronifizieren
Eine rechtzeitige Behandlung kann bei vorbelasteten Kindern und Jugendlichen allerdings vieles abfangen. Es herrsche allerdings ein großer Mangel an Therapieplätzen vor allem für Kinder und Jugendliche, sagt Schmitz. „Nicht versorgen kostet immer langfristig mehr als eine zeitnahe Versorgung.“ Auch um einen Schaden in der Entwicklung frühzeitig zu beheben. „Sonst beeinflusst das unter Umständen das ganze spätere Leben.“
Dabei ist Einflussfaktor Nummer eins für psychische Erkrankungen: Armut. Diese wirkt sich massiv auf alle Lebensbereiche von jungen Menschen aus. Oft leben sie in sozialen Problemvierteln mit einer weniger guten Infrastruktur und sind vielfältigen sozialen Problemen wie Gewalt oder Vernachlässigung ausgesetzt. „Damit sind sie oft auch ausgegrenzt. Armut beschämt Kinder“, sagt Schmitz. Hinzu kommt, wer arm geboren wird, schafft es auch sehr viel schwerer wieder heraus. Oft sind die Lebenswege dann früh festgelegt.
In Deutschland hingegen ist der Plan über die Kindergrundsicherung, einkommensschwache Familien besser zu unterstützen, zunächst einmal gescheitert. Einfacher, einheitlicher und gezielter hätte das Gesetz diese Familien unterstützen sollen. Im Juli dieses Jahres wurden die Pläne aber aus Kostengründen erst einmal wieder verworfen.
Auch die Studie der Universität Bielefeld zeigte große Unterschiede, wie Kinder aus den unterschiedlichen sozialen Milieus Gerechtigkeit wahrnehmen. Der sozioökonomische Status der Eltern spielte eine große Rolle. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie, so der Studienleiter und Professor für Soziale Arbeit Holger Ziegler, seien die Förderung von Bildung, Inklusion, Herstellung von Chancengleichheit, Hilfe und Unterstützung für Alte und Arme, teilte er in der Pressemitteilung der Universität Bielefeld mit.
Auch Schmitz ist der Meinung, dass zwar für Kinder und Jugendliche inzwischen mehr getan wird, aber es sei nicht genug. Es benötige mehr Personal in der Bildungspolitik sowie an Schulen. Aufgrund der steigenden psychischen Probleme seien auch mehr therapeutische Betreuung und mehr Schulsozialarbeiter nötig. „Man muss dicke Bretter bohren“, sagt Schmitz abschließend.
Wer setzt sich für die Rechte von Kindern ein?
Belange von Kindern und Jugendlichen könnten im Grundgesetz verankert werden, findet Schmitz. Er verweist auf Norwegen, wo es einen Ombudsmann gebe, der alle Gesetze daraufhin prüfe, ob sie Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht werden.
Einer der Kinderreporter aus der Sendung von Carolin Kebekus, der kleine Literaturexperte Dennis, verweist darauf, dass das Buch namens Grundgesetz, eigentlich ein „Klassiker“, doch eher „ein Flopp“ sei. Man suche vergeblich nach den Kinderrechten, sagt Dennis.