Im StZ-Interview spricht Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen über Deutschlands Abhängigkeit von Europa - und die Zukunft des Euro.

Stuttgart - Griechenland einfach pleitegehen zu lassen, das hält von der Leyen für eine verlockend klingende, aber gefährliche Idee. Die Ansteckungsgefahr für andere Staaten sei zu groß.

 

Frau Ministerin, nach der jüngsten Bundestagsentscheidung zur Eurorettung hat CSU-Chef Horst Seehofer gesagt: Bis hierher und nicht weiter. Sind Sie sicher, dass der Rettungsschirm nun reicht?

Jetzt ja, aber eine Kristallkugel für die Weltwirtschaft habe ich auch nicht. Das Entscheidende ist, dass wir uns über das gemeinsame Ziel einig sind: Wir wollen ein starkes Europa. Wir wollen den Erhalt der Eurozone. Und wir haben alle verstanden, dass die Krise ihre Wurzeln in der Disziplinlosigkeit des unsoliden Wirtschaftens und Schuldenmachens hat. Wir sind uns einig, dass es Sanktionen geben muss für Länder, die gegen die Schuldenregeln verstoßen und damit dem großen europäischen Gedanken schaden. Über die Details wird es sicher Diskussionen geben. Aber das Bekenntnis zu Europa ist in der CSU genau so stark wie traditionell in der CDU.

Frau Merkel sagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Herr Seehofer sagt, er sehe diesen Zusammenhang nicht. Welcher Denkschule hängen Sie an?

Der Euro ist eines der stärksten Symbole für Europa, und als Arbeitsministerin kann ich nur sagen, wir freuen uns heute über den robusten deutschen Arbeitsmarkt mit 41 Millionen Menschen in Beschäftigung. Aber allein neun Millionen Arbeitsplätze hängen davon ab, dass die Eurozone funktioniert, weil wir dorthin gewaltig exportieren. Deutschland ist stark in Europa, aber eben auch durch Europa. Insofern haben wir ein hohes ökonomisches Interesse, dass der Euro auf Dauer stabil bleibt. Wir haben aber auch ein hohes politisches Interesse, denn 80 Millionen Deutsche wären alleine ein Pingpongball im Spiel der globalisierten Märkte. Richtung und Regeln bestimmen dann andere Mächte, die nach Milliarden zählen. Aber wenn 500 Millionen Europäer gemeinsam ihre Stimme für das europäische Sozialmodell und die soziale Marktwirtschaft erheben, kann man dies nicht überhören. Insofern hat es nicht nur ökonomische, sondern auch politische Konsequenzen, wenn wir unsere Werte auf Dauer durchsetzen.

Dann hat Frau Merkel also recht?

Ja.

Die CDU hat mit Europa einst eine Vision verbunden. Aber Frau Merkel spricht in technokratischen Kürzeln wie EFSF oder ESM. Wo ist die Vision heute?

Krisenzeiten sind immer auch Chance für Aufbruch und Veränderung. Die CDU hat jetzt die Chance, ihr Profil als Europapartei zu vertiefen und für Europa zu werben. Dabei geht die Kanzlerin voran. Sie hat Europa zum zentralen Punkt des Parteitags gemacht. Die CDU, die Europapartei ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Wir wollen jetzt den hohen Druck nutzen, um die entscheidenden politischen Weichen für die Zukunft Europas zu stellen. Wir müssen verhindern, dass sich Länder erneut verschulden und gleichzeitig unser Bekenntnis zu Europa vollenden.

Aber es war nicht die Parteispitze, die über Europa diskutieren wollte, sondern der Unmut der Parteibasis mit der Politik der Kanzlerin hat die Debatte erzwungen.

In den Strudeln der Krise, die tief und weit ist, ist allen klar geworden: Es geht um viel mehr als die Konsonanten ESM oder EFSF, es geht um die Frage des gemeinsames Wertesystems von Europa, das wir erhalten wollen. Vielleicht haben wir Europa in den letzten Jahren für zu selbstverständlich genommen. Wir haben uns über die Brüsseler Bürokratie und die Glühbirnenverordnung aufgeregt. Aber das Gute und die Mission Europas haben wir nicht mehr thematisiert. Wenn man aber Werte nicht benennt und lebendig hält, geraten sie in Vergessenheit. Das ist uns passiert. Jetzt ist die Zeit, das nachzuholen.

Welches sind die Werte Europas?

Erstens: Frieden auf dem Boden des Rechts. Das ist das große Vermächtnis der europäischen Pioniere. Die Deutschen haben Krieg, Tod und Zerstörung über Europa gebracht. Aber man hat uns nicht ausgeschlossen, sondern aufgenommen. Europa hat sein Demokratiemodell auf die Staaten des ehemaligen Ostblocks übertragen, das ist eine riesige Integrationsleistung. Zweitens: Der gemeinsame Binnenmarkt ist eine große Freiheit und ein unschätzbarer Wohlstandsmotor für die Exportnation Deutschland. Drittens: die Freizügigkeit des Arbeitens, Studierens und Reisens - ich will nicht zurück in die Zeit der Schlagbäume und Visa. Viertens: das europäische Sozialmodell, das freiheitliches Wirtschaften mit sozialen Leitplanken verlangt. Ich will nicht, dass angelsächsische oder asiatische Sozialstandards in Europa Fuß fassen. Deswegen müssen wir unserEuropaverteidigen.

Von der Leyen zur Rettung Griechenlands

Nicht alle in der Unionsfraktion scheinen diesen Zusammenhang so zu sehen. Dort wurden viele kritische Fragen zur Eurorettung gestellt - mit teilweise harschen Reaktionen. Haben Sie Sorge, dass Ihnen das Thema entgleitet?

Nein, im Gegenteil. Ich freue mich über die breiten Debatten, es gibt keinen Termin mehr, bei dem ich nicht auch über Europa rede. Dabei gibt es Kritik, Zustimmung, Zweifel, Begeisterung - all das sind Gefühle, die wir für Europa wecken müssen. Denn dann ist Europa lebendig.

Sie haben Europa kürzlich mit einem Paar verglichen, das in die Jahre gekommen ist und sich plötzlich die Frage stellt: Sollen wir heiraten? Erweist sich der wahre Europäer darin, dass er ins Standesamt reingeht, dass er also bereit ist, die Risiken der Eurorettung auch zu tragen?

Es ist das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können, und Sicherheit, dass man respektvoll miteinander umgeht und für die gemeinsame Sache einsteht - mit allen Rechten und Pflichten. Vor 60 Jahren lagen wir am Boden. Man hat uns mit dem Marshall-Plan wirtschaftlich auf die Beine geholfen. Man hätte auch den Morgenthau-Plan umsetzen können, der Deutschland zum Agrarland degradiert hättte. Heute ist die Frage: Gelingt es uns gemeinsam, Griechenland in die Lage zu versetzen, wettbewerbsfähig zu werden und aus eigener Kraft Stärke zu erringen. Die Frage, wie wir mit Griechenland umgehen und ob es Europa gelingt, die Eurozone zu halten, wird von den Investoren als Gradmesser dafür genommen, ob es sich auf Dauer lohnt, in diesen Kontinent zu investieren.

Wenn der Gradmesser der Schutz der Eurozone ist, warum reden dann immer mehr ganz offen davon, man solle sich auch auf eine Pleite Griechenlands einstellen ?

Es ist eine Milchmädchenrechnung zu glauben, dass eine Pleite Griechenlands uns die Probleme vom Hals schaffen würde. Im Gegenteil. Es würde einen tiefen Vertrauensverlust in die Staatsanleihen bedeuten, wenn ein europäischer Staat seine Garantien nicht mehr einhält - mit Ansteckungsgefahren für andere Länder. Über die Dramen in Griechenland selber will ich gar nicht erst sprechen. Die einfache Sprache ist vielleicht für den Moment attraktiv, sie löst aber auf Dauer kein Problem.

Sie plädieren für eine Rettung Griechenlands. Können Sie trotzdem die Bürger verstehen, denen es angesichts der vielen Milliarden mulmig wird im Hinblick auf den deutschen Haushalt?

Natürlich! Das ist völlig nachvollziehbar. Uns allen sind doch Dimension und Auswirkungen der globalisierten und vernetzten Welt unheimlich. Wir ringen doch tagtäglich darum, Sicherheit zu finden in den globalen Freiheiten, die wir gerne nutzen und bei den globalen Risiken, die wir alle fürchten und wenig beeinflussen können. Ich will mir die ökonomischen Folgen nicht ausmalen, wenn Europa zerfällt. Denn dahinter werden sich andere europäische Bündnisse bilden - wir holen uns dann die Schärfe des globalisierten Wettbewerbs in das Herz von Europa. Ich will, dass Europa mit seinen gemeinsamen Werten und seinem Größenvorteil unser sicherer Hafen im Sturm der Globalisierung bleibt.

Sie wollen die Vereinigten Staaten von Europa. Wie stellen Sie sich die vor?

Der erste Schritt ist jetzt, eine bisher halbherzige Währungsunion zu vollenden. Dazu gehört die Einsicht: Wenn wir alle Vorzüge eines starken Euro wollen, dann müssen wir auch bereit sein, ein Mindestmaß an Souveränität an die europäische Ebene abzugeben. Konkret heißt es, dass eine Schuldenbremse zentral durchgesetzt wird, die nicht nach Gutdünken der Staaten ausgehebelt werden kann.

Aber nicht einmal diese Schuldenregel ist unumstritten.

Das alte Credo - immer mehr Verschuldung, um in Krisenzeiten den Konsum anzukurbeln -, hat sich erschöpft. Wir haben gelernt, dass ohne Haushaltsdisziplin in Aufschwungphasen auch bei Staaten irgendwann die Grenze der Kreditwürdigkeit erreicht ist. Niemand leiht einem Geld, wenn er nicht sicher ist, dass es zurückgezahlt wird. Das ist ein einfacher, rationaler Mechanismus.

Enge Beziehung zu Brüssel

Belgien: Ursula Gertrud von der Leyen wurde am 8. Oktober 1958 in Ixelles/Elsene nahe der belgischen Hauptstadt Brüssel geboren. Ihr Vater Ernst Albrecht, der spätere Ministerpräsident von Niedersachsen, war zu dieser Zeit Kabinettschef in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) - einem Vorläufer der EU.

Kommission: Die Arbeitsministerin und stellvertretende CDU-Vorsitzende ist auch Mitglied in der Europakommission ihrer Partei, die zur Zeit eine aktualisierte europapolitische Programmatik der Union entwickelt.