Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass Arbeitszeugnisse nicht nur gute und sehr gute Beurteilungen enthalten müssen. Eine Arbeitnehmerin hatte geklagt, weil sie mit ihrem Zeugnis nicht zufrieden war.

Erfurt - Manch ein Schüler wäre überglücklich, wenn sein Abschlusszeugnis auch nur annähernd so aussähe wie die Beurteilungen, die Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern erhalten. Die in verklausulierten Geheimcodes verfassten Beurteilungen (siehe: „Wie übersetzt man die Formulierungen?“) klingen meistens nicht nur toll – sie sind es auch. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass inzwischen rund 90 Prozent aller Arbeitszeugnisse den Schulnoten „gut“ oder „sehr gut“ entsprechen.

 

Das hat eine Berliner Zahnarzthelferin dazu bewogen, gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber zu klagen. Dieser hatte ihre Leistung umgerechnet nur mit „befriedigend“ bewertet. Wie die Masse aller Arbeitnehmer wollte die Frau ein „gut“ – und hatte vor dem Arbeitsgericht wie dem Landesarbeitsgericht mit ihrer Argumentation Erfolg. Nach einheitlicher Rechtssprechung müssen Arbeitszeugnisse „wahr und wohlwollend“ formuliert sein. Wenn rund 90 Prozent der Beurteilten mindestens ein „gut“ erhalten, dann sei das Standard, urteilten die Gerichte in den Vorinstanzen.

Dieser Ansicht hat das Bundesarbeitsgericht gestern widersprochen (Az: 9 AZR 584/13). Entscheidend für die Frage der Beweislast sei nicht die am häufigsten vergebene Note, urteilten die Erfurter Richter. Entscheidend sei vielmehr, dass „befriedigend“ die mittlere Note der Zufriedenheitsskala sei. Begehre der Arbeitnehmer eine bessere Benotung, so müsse er vor Gericht darlegen, dass er den Anforderungen in seiner Position in guter oder sehr guter Weise gerecht geworden sei.

„Nur im Rahmen der Wahrheit wohlwollend“

Die Frage der Darlegungs- und Beweislast ist – nicht nur im Arbeitsrecht – oft von prozessentscheidender Bedeutung. So kompliziert es für den Arbeitnehmer ist, seine Stärken gerichtsverwertbar zu beweisen, so schwer ist es für den Arbeitgeber, unterdurchschnittliche Leistungen gerichtsfest darzulegen. Im aktuell entschiedenen Fall muss nun das Landesarbeitsgericht klären, wie die Leistung der Zahnarzthelferin einzustufen sei. „Ein Zeugnis muss auch nur im Rahmen der Wahrheit wohlwollend sein“, gaben die Richter den Beteiligten mit auf den Weg.Die massive Häufung guter und sehr guter Noten mag aus Arbeitnehmersicht erfreulich sein. Sie trägt aber nach Ansicht von Joachim Sauer dazu bei, dass Arbeitszeugnisse bei der Einstellung neuer Mitarbeiter „eine immer geringere Bedeutung haben“. Das liege nicht nur an der Noten-Inflation. Der Präsident des Bundesverbandes der Personalmanager (BPM) – einer berufsständischen Vereinigung von Personalprofis – ist auch überzeugt, dass es eine große Zahl von Gefälligkeitszeugnissen gibt. Viele Arbeitgeber wollten Streit um die Formulierungen vermeiden und scheidenden Mitarbeitern keine Steine in den Weg legen – auch wenn sie unzufrieden mit ihnen gewesen seien. Teilweise würden die Beurteilungen sogar von den Beschäftigten selbst verfasst.

Für aussagekräftiger hält Sauer „einen gut strukturierten Lebenslauf, in dem nicht nur steht, wo man wie lange gearbeitet hat“. Hilfreich seien zum Beispiel Selbsteinschätzungen zu den eigenen Stärken und Schwächen oder Kennzahlen, die die bisherigen beruflichen Erfolge belegen. „Das könnte etwa bei einem Außendienstler die Umsatzentwicklung in dem von ihm betreuten Gebiet sein“, erläutert der Experte. Unabhängig von der Zeugnisfrage plädiert Sauer für ein systematischeres Vorgehen von Unternehmen bei Neueinstellungen – etwa durch einen klaren Kriterienkatalog für Vorstellungsgespräche. Sauer begrüßt zwar die Entscheidung der Erfurter Richter, nach dem Arbeitgeber weiterhin ein „befriedigend“ ins Zeugnis schreiben dürfen. Doch letztlich werde das Urteil den Bedeutungsverlust von Arbeitszeugnissen nicht aufhalten. „Da wird etwas zwangsbeatmet, das eigentlich keine Zukunft mehr hat“, sagt der Personalprofi. Auch der Personalberater und frühere Personalleiter des Kameraherstellers Olympus, Karl-Heinz List, hält nicht viel von Zeugnissen. Er plädiert stattdessen dafür, „auf die Beurteilung von Leistung und Arbeitsverhalten ganz zu verzichten“, wie er in einem Beitrag für „Die Zeit“ schreibt. „Wenn jeder ein gutes Zeugnis bekommt, dann ist kein Zeugnis mehr richtig gut“, findet List. Stattdessen sollte dem Arbeitnehmer nur bescheinigt werden, welche Aufgaben er erledigt hat und welche Anforderungskriterien dafür nötig waren. „Dann würden sich auch die vielen Arbeitsgerichtsprozesse reduzieren, die um schlechte Zeugnisse geführt werden.“ Allerdings bedürfe es dazu einer Gesetzesänderung.

Daimler will nicht auf Zeugnisse verzichten

Trotz aller Expertenkritik spielen Arbeitszeugnisse bei Daimler nach wie vor eine Rolle. Sie seien „ein Ansatzpunkt, um sich einen ersten Eindruck von einem Kandidaten zu verschaffen“, heißt es bei dem Autobauer. Am Ende sei aber das gesamte Profil eines Kandidaten maßgeblich. „In einem persönlichen Gespräch erhalten wir neben weiteren Einblicken in die fachliche Qualifikation auch einen Eindruck der Persönlichkeit des Bewerbers“, so eine Sprecherin.

Auch die IHK Stuttgart will nicht in den Abgesang auf das Arbeitszeugnis einstimmen. „Für die Vorauswahl sind Zeugnisse immer noch wichtig“ sagt eine Sprecherin. Für die Unternehmen gebe es zunächst einmal keine andere Informationsquelle – trotz aller Unzulänglichkeiten von Arbeitszeugnissen. Ein Anruf beim früheren Arbeitgeber habe letztlich auch keine größere Aussagekraft. „Da wissen Sie in der Regel auch nicht, an wen Sie geraten und wie objektiv die Informationen sind“, sagt die Sprecherin. Auch hier sei es meist so, dass Unternehmen einem scheidenden Mitarbeiter nicht schaden wollten. Die IHK betont aber zugleich, dass Arbeitszeugnisse nur einer von vielen Bausteinen sein könnten, aus denen sich die Personalverantwortlichen ein Gesamtbild einer Bewerberin oder eines Bewerbers machen.