In Deutschland sind ihre Bücher eher Geheimtipps geblieben: Die Amerikanerin Alison Lurie, die nun im Alter von 94 Jahren gestorben ist, erzählte davon, dass auch die Gebildeten und Properen das Leben nicht auf die Reihe bekommen. Es lohnt sich, ihre Romane zu entdecken.

Stuttgart - Es war ein schweres Ringen, bis Alison Lurie einst zur Welt kam, als ob das Kind gehofft hätte, mit ein wenig Verzögerung hätten die schon Geborenen noch eine Frist, die Verhältnisse ein wenig besser einzurichten. Wer die auf täuschend ruhige Weise sehr bissigen Romane und Erzählungen der am 3. Dezember im Alter von 94 Jahren gestorbenen Amerikanerin kennt, muss beim Gedanken daran gewiss lächeln.

 

Vom Zugriff der Geburtszange behielt Lurie Schäden zurück: Taubheit auf einem Ohr und einen Mundwinkel, der sich beim Sprechen und Lachen nach unten weg verzog, als dränge bei allem, was Lurie zu sagen hatte, auch ein säuerlich amüsiertes Missfallen nach oben. Das mag ihr im Leben Kummer bereitet haben, aber auch diese unfreiwillige Mimik passt wunderbar zu ihren Büchern, die mehr als einmal als „Comedies of Manners“ bezeichnet worden, als Komödien also, die bürgerliche Sitten und Konventionen unter die Lupe nehmen.

Liebe und Triebe

Lurie war Akademikerin, Spezialistin für Kinderbücher, und auch viele ihrer Antiheldinnen und Protagonisten sind Akademiker, zumindest Menschen mit Bildungshintergrund – oder zu allermindest jene Art Mittelklasse, die sich weit entfernt fühlt von den Grobianen dieser Welt. Mal um mal hat die Professorin Lurie beschrieben, wie diese klugen, aufs Angemessene bedachten, um ihre Fassade bemühten Menschen das Grundlegende nicht auf die Reihe bekommen, vor allem die Liebe und die Triebe nicht, nicht in der Ehe, nicht im Seitensprung und nicht im Single-Dasein.

Für ihren Roman „Foreign Affairs“, der in Übersetzung „Affären“ heißt, erhielt sie 1985 den Pulitzer-Preis. Auch das aber konnte ihr hierzulande nicht so recht zum Durchbruch verhelfen, ihre auf Deutsch bei Diogenes erschienenen Werke wie „Familienkrieg“ „Die Wahrheit über Lorin Jones“ oder „Nowhere City“ blieben eher Geheimtipps. Das mag an einem Missverständnis liegen, das in mancher Rezension aufschien. Lurie hatte ein waches Auge dafür, dass sich Menschen auch in extremen Momenten mit Konventionen und Klischees behelfen, und dass sie wenig originelle Dinge sagen und denken, wenn es Zeit für etwas Besonderes wäre. Hie und da glaubte jemand, das als schwache Individualisierung der Figuren tadeln zu müssen. Dabei kam es Lurie doch darauf an, genau das zu zeigen: wie wenig individuell, wie schematisch auch die Klugen, Eitlen und Selbstbewussten oft sind.

Zweiter Rang für Frauen

Vielleicht hängt ihr Übersehenwerden hierzulande aber auch damit zusammen, dass die Literaturkritik die Männer lange, ohne das selbst zu merken, grundsätzlich höher schätzte als die Frauen. John Updike und Philip Roth wurden als Schwergewichte wahrgenommen, jemand wie Alison Lurie immer nur bestenfalls als Halbschwergewicht. Auch von solchen Sexismen selbst in liberalen Kreisen erzählte Lurie, manchmal so elegant beiläufig, dass einem der Sarkasmus erst zwei Sätze später aufging. Wer ihre Bücher noch nicht kennt, hat eine große Entdeckung vor sich.