Der Kampf Obamas für sein historisches Projekt hat sich gelohnt, meint StZ-Korrespondent Andreas Geldner.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Washington - Für Barack Obama ist die Entscheidung des Supreme Court über seine Gesundheitsreform ein geradezu sensationeller Erfolg. Dass ein mehrheitlich konservativ ausgerichteter Gerichtshof das Gesetz für verfassungsgemäß erklärt, macht das Urteil besonders bemerkenswert. Die Reform, die der frisch gewählte US-Präsident zu einer Zeit anpackte, als die Demokraten noch eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses hatten, war sein einziger echter Versuch, den historischen Erwartungen, die an seinen Wahlsieg 2008 geknüpft waren, gerecht zu werden.

 

Obama wollte etwas durchsetzen, woran seine Vorgänger seit der Präsidentschaft von Franklin Roosevelt in den dreißiger Jahren gescheitert waren – zuletzt der demokratische Präsident Bill Clinton. Das Ziel war nobel, der Weg dorthin kompliziert. Mancher demokratische Abgeordnete, der tapfer mit Ja stimmte, hat in den Zwischenwahlen 2010 für diese Reform seine Karriere geopfert. Es hat sich gelohnt. Die Kritiker wird die Gerichtsentscheidung zwar nicht besänftigen, aber sie können Obama nicht mehr als Verschwörer geißeln, der die Verfassung der Vereinigten Staaten systematisch untergräbt.

Kurzfristig ist das für ihn ein enormer Schub. Für die Wahl im November könnten die Folgen der Entscheidung aber paradox sein. Sie könnte Obamas Gegner erst recht mobilisieren. Auf Dauer abgesichert ist die Reform des Präsidenten jedenfalls noch nicht. Doch das Verfassungsgericht hat die Tür für eine neue amerikanische Sozialpolitik in der Zukunft offen gehalten. Das Urteil steht in einer Reihe mit den historischen Entscheidungen zum Ende der Rassentrennung in den Schulen in den fünfziger Jahren und der Legalisierung der Abtreibung in den frühen Siebzigern.

Die Gegner der Reform prägen den politischen Zeitgeist

Die Verfassungsrichter haben sich mutig gegen einen langfristigen Trend der amerikanischen Gesellschaft gestellt, den der Wahlsieg Obamas im Jahr 2008 nur vorübergehend übertünchte. Die Skepsis der Amerikaner gegenüber dem Staat ist in den vergangenen Jahrzehnten nämlich stetig gewachsen. Es sind zwar keine massiven Mehrheiten, die Obamas Gesundheitsreform ablehnen, aber sie prägen den politischen Zeitgeist. Es gibt ein bemerkenswertes Detail, das diesen Wandel unterstreicht. Es erscheint aus heutiger Sicht fast unglaublich, dass die nun von den Richtern gegen den Angriff der politischen Rechten gerettete Versicherungspflicht einst eine republikanische Idee war. Sie galt als Absicherung, um das private Versicherungssystem in den USA vor noch stärkeren staatlichen Eingriffen zu schützen – etwa der Einführung von öffentlich-rechtlichen Krankenkassen nach deutschem Muster. In den neunziger Jahren stand unter dem Demokraten Clinton der Vorschlag eines staatlich reglementierten Versicherungssystems noch selbstverständlich im Raum. Etwas mehr als ein Jahrzehnt später wagte es Obama noch nicht einmal mehr, laut über so etwas nachzudenken.

Seine Reform war komplex, aber moderat. Als sie Anfang 2010 verabschiedet wurde, war sich die Mehrheit der Rechtsexperten einig, dass ein solcher Eingriff in der Vollmacht der Bundesregierung lag. Schließlich hatte Roosevelt das Sozialsystem noch radikaler umgekrempelt, auch gegen den Widerstand der damaligen Verfassungsrichter. Doch die Nervosität vor der neuen Gerichtsentscheidung war groß. Die Republikaner hatten ein nie da gewesenes Kesseltreiben gegen die Reform veranstaltet. Selten ist es in diesem Streit um die Millionen Menschen gegangen, denen ein solidarisches und bezahlbares Gesundheitssystem buchstäblich das Leben retten kann. Die Gegner verschanzten sich hinter Prinzipien und Abstraktionen. Doch nach diesem Urteil haben die Menschen, welche die schützende Hand des Staates am meisten benötigen, wieder eine Chance.