Die Tücken des US-Wahlsystems könnten die Präsidentschaftswahl am Dienstag zum Drama machen – doch der Amtsinhaber Obama ist ganz leicht favorisiert. Ohio könnte dieses Mal zum Zünglein an der Waage werden.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Washington - Selten sind vor einer US-Präsidentschaftswahl die Meinungsumfragen so knapp gewesen wie 2012. Doch dieser Wahltag hat nicht nur bei der bis zuletzt spannenden Frage, ob denn nun Amtsinhaber Barack Obama oder der Republikaner Mitt Romney als Sieger hervorgehen wird, das Potenzial für Überraschungen. Aufgrund der Prognosen und des Wahlsystems gibt es sogar ein gewisses Risiko, dass die Amerikaner am Morgen des 7. November aufwachen – und gar nicht wissen, wer ihr künftiger Präsident ist. Seit seinem erfolgreichen Debattenauftritt Anfang Oktober in Denver hat Mitt Romney lange einen knappen Vorsprung gehalten, wenn man die Wähler über alle Bundesstaaten hinweg befragt hat. Erst kurz vor der Wahl hat Obama aufgeholt.

 

Vor allem die ganz aktuellen Meinungsumfragen geben ihm Rückenwind. Am Sonntag stand es im Durchschnitt aller vom Informationsportal Realclearpolitics zusammengefassten Umfragen bei 47,4 zu 47,2 Prozent zu Gunsten von Obama – de facto ein Unentschieden. Anders sieht es aus, wenn man die letztlich entscheidenden Wahlmännerstimmen betrachtet. Hier liegt Obama mit 290 zu 248 relativ klar vorn, sofern man ihm alle Bundesstaaten zuschlägt, wo er auch nur einen hauchdünnen Vorsprung in den Umfragen hat. Sicher in der Tasche hat er aber nur 201 Stimmen – und Romney immerhin 191. Der Statistikexperte Nate Silver von der „New York Times“, der alle landesweiten Umfragen und die aus den Einzelstaaten präzise zu gewichten versucht, sieht die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Barack Obama zurzeit bei 85 Prozent. Doch das heißt auch, dass Romney eine Chance zwischen eins zu fünf und eins zu sechs auf den Sieg hat.

Das US-Wahlsystem hat seine Tücken

Die Diskrepanz zwischen dem Unentschieden bei den Wählerpräferenzen und dem deutlicheren Abstand bei den Wahlmännern, lenkt wieder einmal den Blick auf das US-Wahlsystem. Der US-Präsident wird nämlich nicht direkt gewählt, sondern in 50 Bundesstaaten werden separat Delegierte bestimmt, die am 17. Dezember in ihren Heimatstaaten die Stimme für den einen oder anderen Kandidaten abgeben. Feierlich ausgezählt wird erst am 6. Januar. Mit zwei Ausnahmen in Nebraska und Maine sind die Regeln einfach: Wer in einem Bundesstaat die relative Mehrheit erringt, bekommt dort alle Wahlmännerstimmen. Insgesamt gibt es 538 solche Delegierte. Welches Gewicht jeder Bundesstaat in die Waagschale werfen kann, hängt von der Bevölkerungszahl ab. Der Sieger in Wyoming erhält drei Wahlmännerstimmen, der führende Kandidat in Kalifornien sammelt hingegen 55 ein.

Ein Demokrat, der keine Aussicht auf einen Sieg in Texas hat, oder ein Republikaner, der New York abschreiben muss, braucht in diesen Bundesstaaten keinen Wahlkampf zu machen – die Stimmen des Unterlegenen fallen unter den Tisch. Umkämpft sind deshalb nur die Handvoll sogenannter Swing States, also die Bundesstaaten, in denen beide Kandidaten eine Siegeschance haben. Obamas minimale Favoritenrolle erklärt sich dadurch, dass er gleich in mehreren Staaten etwas schlechter als in den Umfragen abschneiden könnte und ihm dennoch ein Weg zu den mindestens nötigen 270 Wahlmännerstimmen offensteht. Romney hingegen müsste in mehreren Swing States bessere Ergebnisse erzielen als in den letzten Prognosen, um die entscheidende Zahl zu erreichen.

Der Auszählungsmarathon 2000 könnte sich wiederholen

Möglich ist auch ein gespaltenes Resultat: Romney könnte die Mehrheit der Stimmen im Land gewinnen und dennoch bei den Wahlmännern unterliegen. Die Demokraten würden sich in diesem Fall für die Wahl im Jahr 2000 revanchieren, wo ihr Kandidat Al Gore unterlag, obwohl er insgesamt mehr Stimmen bekommen hatte als sein republikanischer Gegner George W. Bush. Damals gaben 537 Stimmen in Florida zu Bushs Gunsten den Ausschlag. Der Republikaner lag am Ende mit 271 zu 266 Wahlmännern vorn.

Ohio könnte das Zünglein an der Waage werden

Die Chance, dass sich das Auszählungsmarathon des Jahres 2000 wiederholt, ist gar nicht so klein. Obama und Romney liegen in einer ganzen Reihe potenziell wahlentscheidender Bundesstaaten so nahe beieinander, dass nach der Auszählung am Wahlabend das Ergebnis womöglich wochenlang unklar bleiben könnte. Eine neue Regelung zur Briefwahl im Bundesstaat Ohio etwa könnte die dortigen Resultate verzögern. Hier haben erstmals alle Wähler gleich mit der Wahlbenachrichtigung ein Antragsformular für die Briefwahl erhalten. Das hat dazu geführt, dass sich viel mehr Wähler als vor vier Jahren Briefwahlunterlagen haben schicken lassen – und dann vielleicht doch ins Wahllokal gehen. In dem Fall müsste genau kontrolliert werden, dass solche Wähler nicht zweimal abgestimmt haben.

Diese Prüfungen dürfen laut Gesetz erst Mitte November beginnen. Das ist im Falle von Ohio brisant: Wer den möglichen Wahlausgang simuliert, landet in der Hälfte der Fälle bei dem Ergebnis, dass die 18 Wahlmännerstimmen von Ohio in diesem Jahr das Zünglein an der Waage sein werden.